Minimalismus, Schrammelklang und ein magisches Bierdreieck


  1. Tag: Donnerstag, 1. Juli

Strecke: Reingers – Litschau – Gmünd – Weitra – St. Martin

Streckenlänge: 59 km

Wenig Gepäck auf Radreisen ist eine Zauberformel, man kann aber auch übertreiben. Waldviertler Nächte sind kalt, der warme Schlafsack wäre doch die bessere Option gewesen. Für die Nachtruhe kommen alle mitgebrachten Textilien zum Einsatz.
Nieselregen begleitet die Fahrt nach Litschau. Der Luftkurort liegt am Herrensee und veranstaltet das alljährlich stattfindende Schrammelklang Festival (www.schrammelklang.at). Ein Tipp mit am Weg, am Wochenende vom 16.-18. Juli gastieren die Spitzenreiter des schrägen Wienerlieds, präziser ausgedrückt: das Kollegium Kalksburg, Die Strottern und das Trio Lepschi.
Die Frontalopposition der Winde nagt an den mentalen Kräften, spätestens in Gmünd müssen die körperlichen und geistigen Akkus erfrischt werden. Die kulturelle Haupstadt des Waldviertels ist grenzübeschreitend, die tschechische Stadt České Velenice war bis 1919 ein Statteil von Gmünd.
Die Stadtzentren der Gegend haben alle etwas ähnliches, großer Platz, ein Bethaus, ein Brunnen oder das Rathaus im Zentrum, ein paar Schmuckfassaden und ein beschirmtes Hotelrestaurant. Der Hauptplatz der Braustadt Weitra, die heuer 700 Jahre feiert, ist besonders schick herausgeputzt. Apropos Hopfengetränk, das Waldviertel besticht durch ein komprimiertes Bierdreieck: Zwettl, Schrems und Weitra, alles Brauereien die sich noch nicht von Getränkeriesen haben kaufen lassen und das schmeckt man auch!

Gewitterzauber, vom Wald- ins Weinviertel und Kreuzweg statt Genuss-Straße


  1. Tag: Mittwoch, 30. Juni

Strecke: Oberretzbach – Riegersburg – Drosendorf – Weikertschlag – Dobersberg – Reingers

Streckenlänge: 82 km

In der Nacht zieht ein Gewitter auf, der Blitze tanzen, Donner rumort, Hagel trommelt auf das Zeltgestänge. Innerhalb der Kunststoffwände ein wunderbares Schauspiel. Am frühen Morgen putzt sich ein Vogelorchester die Schnäbel und tönt eindrucksvoll aus vollen Lungen.
Immer am Rand zur tschechischen Grenze, anfangs steil bergauf rollen die Räder vom Wein- rüber ins Waldviertel. Die Rebstöcke werden seltener, die Baumlandschaften mehren sich, dazwischen endlose Feldermeere. Die Temperaturen sind heute im Wohlfühlbereich, dafür fährt der Wind einen scharfen Oppositionskurs. Beiderseits der Route immer wieder Gekreuzigte, unzählige, mehr als Ortschaften, viel mehr als Labestationen. Ein Kreuzweg anstatt der von der «Heimat-Werbung» propagierten Genuss-Region. Darüber hinaus ein harter Arbeitstag bis zur Ankunft im Hanfdorf Reingers im nördlichsten Zipfel des Landes. Die Gemeinde wirbt mit dem Slogan «Hanf das neue Erdöl», aber auch hier bleibt die Küche kalt, das Wirtshaus schließt um 11:30!
Kurz nach Fertigstellung des Mobilhauses kommt der Regen und wie schon beim letzten Reigers-Aufenthalt springen die Fische im angrenzenden See.

Comeback in Staatz, Wohlfühlplätze und ein leeres Schmuckkasterl


  1. Tag: Dienstag, 29. Juni

Strecke: Hohenau – Staatz-Kautendorf – Laa an der Thaya – Hadres – Oberretzbach

Streckenlänge: 94 km

Der im Stadtzentrum eingezeichnete Campingplatz ist frei erfunden, letztendlich steht das Mobilheim am Kellerberg, inklusive Weitblick und tausenden Mistviechern.
Der frühe Vogel fängt den Wurm, um Punkt 06:30 beginnen sich die Laufräder zu drehen. Zwischen Brot und Wein windet sich das Asphaltband Richtung Poysdorf und weiter Richtung Staatz. Ein Wiedersehen nach 26 Jahren. Damals hatte das Fortbewegungsmittel vier Hufe, die eigenen Haare waren lang, mit Federn geschmückt und Kriegsbemalung im Gesicht. Buffalo Bill Festspiele unterhalb der Staatzer Burgruine. Als Sioux Krieger war die Aufgabenstellung den jungen Bill Cody um die Ecke zu bringen. Der Mordversuch endete letztlich tötlich für den Angreifer. Für die Wiederauferstehung benötigte der tapfere Sioux allerdings keine drei Tage, schon kurz nach der Halbzeitpause kreuzte er erneut sein Thomahawk mit dem Bleichgesichtern. Das Comeback aber verläuft hochgradig unspektakulär, die Ortschaft schläft noch, die Felsenbühne ist eine Baustelle und kein Saloon in Sicht.
Spätestens ab jetzt beginnt ein harter Ritt, die Thermenstadt Laa an der Thaya wird zur Jausenstation degradiert bevor die Mittagssonne alle restlichen Energien verbrennt.
Auch heute stellt sich die Frage, Hauptverkehrs- oder Radroute? Die Antwort ist zweischneidig, entweder Autoverkehr oder Schlangenlinien. Die Radrouten schlagen ordentliche Haken in den kürzesten Weg, gut befahrbarer Untergrund durch viel Gemüse, das steigert die Kilometerleistung, dazu absolut schattenfrei und hoch am Himmel lauert die gelbe Sau. Ein Positivum, im Pulkautal verstecken sich einige «Wohlfühlplätze», also offene Kellertüren mit Selbstbedienung: «Die Tür ist offen, schenk dir ein!» So auch in Hadres mit der längsten zusammenhängenden Kellergasse Europas.
Der Weg zum Ziel wird inzwischen in kleinen Portionen absolviert, von Kellertür zu Kellertür! In Oberretzbach ist Endstation am Waldcampingplatz, Körperpflege ist dringend notwendig. Der Wermutstropfen der Geschichte, obwohl mitten im Wein gelegen gibt es keine einzige offene Buschenschank in der Umgebung, Wirtshaus ebenfalls nicht. Das Rad wieder aufgesattelt, in Retz soll es offene Gastwirtschaften geben. Es gibt nur noch Pizza, die Küche hat bereits um halb Acht dicht gemacht. Armes Retz, ein lebloses Schmuckkasterl.

Einleitung, Routinen, Marchwelten


  1. Tag: Montag, 28. Juni

Strecke: Wien Wasserwiese – Lobau – Gänserndorf – Angern an der March – Hohenau

Streckenlänge: 78 km

Die Parole lautet: «Innenrum rundherum!» Start- und Zielpunkt sind ident: 1020 Wien, Kleingartenanlage Wasserwiese. Die Reiseroute: Ein Mal rund ums Land gegen den Uhrzeiger. Einzige Spielregel: Keine Grenzüberschreitungen.
Die Stadtausfahrt Richtung Osten verlangt nach strengen Routinen, als erste Erfrischungsstation ist das «Knusperhäuschen» in der Lobau ein Muss! Der Waldimbiss an der Panozzalacke führt auch gleich ein Problem der nächsten Wochen vor Augen: Sprachverständlichkeit ist nicht immer ein Segen. Am Nachbartisch referiert ein eigeborenes Hirschstettner Paar über Eigenheiten und Familienplanung von Nichthiesigen. Lautstark, über Tische hinweg und keineswegs gutmeinend. Seit Blau/Schwarz/Türkis ist solcher Sprech wieder salonfähig georden. Her mit einer Politikwende!
Eine Bundesstraße führt über Gänserndorf Richtung Angern an der March. Rechts und links der Fahrbahn viel Grünzeug, Getreide, Sand- und Schotterwerke, sowie zwei Modellbau-Flugplätze. Von oben sticht die «gelbe Sau», von hinten drängt der Schwerverkehr. Her mit einer Verkehrswende!
In Angern an der March kehrt erstmals Ruhe ein, die March verbiegt sich zu einer Schlinge um die slowakische Ortschaft Záhorská Ves. Eine Mini-Fähre verbindet die niederösterreichische Markt- mit der slowakischen Nachbargemeinde. Im ehemaligen Zollamt hat sich eine Gastwirtschaft auf Stelzen eingemietet – «Das Leben ist schön». Der Lokalname ist Programm und sein Patron hat immer einen flotten Spruch auf der Zunge, «das Erdgeschoss im ersten Stock, so funktioniert gehobene Küche».
Ab jetzt führt der Kamp-Thaya-March Radweg durch Aulandschaften direkt bis nach Hohenau ins Dreiländereck Österreich-Tschechien-Slowakei. Das Verkehrsaufkommen reduziert sich auf nahezu Null, einzig Hasen, Rehe und Federvieh kreuzen die Wege.
Das Tagesziel, die ehemalige Zuckerhochburg Hohenau, zeigt ein trauriges, verwaistes Bild, auch der malerische Kellerberg wirkt ausgestorben, einzig das rustikale Stüberl «Christl» serviert einen Achterl!

Endlich Reise, Reise, …


Der Entzug ist zu Ende und der Bobo-Porsche wieder aufgesattelt. Eigentlich war Odessa der Sehnsuchtsort, leider doch nicht Schwarzes Meer, die Umstände liegen auf der Hand. Einmal umgesattelt: diesmal keine Fremdsprachen, keine Landesüberschreitungen und trotzdem spielen Grenzen eine Rolle. Nicht nur die körperlichen, der Titel der Reise lautet: «Innenrum rundherum». Kein patriotischer Ausflug (Anspieltipp: Attwenger «Klakariada»), einfache «Hausmannskost» erradeln abseits der auf Hochglanz polierten Österreich-Werbung. Erdig mit Rad, Zelt und neu im Programm, eine Hängematte …

Wieder in Wien, ein Mitbringsel und eine Zusammenfassung


  1. Tag: Sonntag, 27. September

«Servas Oida, hab di ewig ned g’segn
Kumm, dazöh ma, was is ollas so gschegn
Ja, i woa laung nimma da
Owa jetzt bin i unhamlich froh
I bin wieder in Wien» (Georg Danzer)

ps: im Mobilhaus hat sich ein Mitbringsel versteckt …

Und im Nachspann eine kurze Zusammenfassung:

Reisetage: 14

Strecke:
Wien – Warschau – Augustów – Stary Folwark – Wiżajny – Gołdap –
Węgorzewo – Rydzewo – Wiartel – Ełk – Stary Dwór – Białowieża – Warschau –
Wien

Übernachtungen: 12 x im Zelt; 2 x im Zug

Gefahrene Radkilometer: 622

Vielen Dank für‘s Mitreisen/-lesen …,
bis zum nächsten Ausritt!
Alles Liebe
Mario

Zerstückelte Stadt, von Glastürmen bis Wohnsilos und der Zug fährt ab


  1. Tag: Samstag, 26. September

Strecke: Warschau – Wien

Streckenlänge: 16 km (Radkilometer/Warschau)

An der Weichsel entlang ins Stadtzentrum. Kaffee trinken, Bahnticket kaufen, Geld wechseln … Warschau kann seine Reize gut verstecken, es zeigt sich eine zerstückelte Stadt. Was auch kein Wunder ist, nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand (1. August bis 2. Oktober 1944) hat die deutsche Besatzungsmacht die Stadt fast vollständig zerstört. Die Altstadt wurde zwischen 1946 und 1953 detailgetreu wiederaufgebaut und 1980 als Weltkulturerbe ausgezeichnet.
Trotzdem sind die Brüche in der Stadt nicht zu übersehen. Im revitalisierten Zentrum tobt der übliche touristische Zirkus, außerhalb streiten sich realsozialistische Bauten mit kapitalistischen Hochhausgiganten um den Platz in der Stadt. Der zukünftige Sieger steht fest. Was noch auffällt, während (zurecht) ein würdiges Monument an den Warschauer Aufstand erinnert, liegt die Erinnerung an, die von den Nationalsozialisten vernichtete jüdische Bevölkerung und das Warschauer Ghetto im Verborgenen. Inmitten von Wohnhausanlagen versteckt, erinnert lediglich ein winziger Rest der einstigen Ghetto-Mauer an die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.
Zwischen Glastürmen und Wohnsilos findet sich dann doch noch eine erdige Kneipe um die Zeit bis zur endgültigen Heimbringung zu vernichten. 18.55, Zug fährt ab!

Erster Rückreisetag, eine Rad-Bahn-Kombi und ein Campingplatz des Grauens


  1. Tag: Freitag, 25. September

Strecke: Białowieża – Hajnówka (Rad) – Warschau (Zug)

Streckenlänge: 30 km (Radkilometer)

Die erste Etappe der Rückreise führt noch einmal ein Stück durch Büffel-Revier, die gewünschte Begegnung bleibt abermals aus. In einem Kaff namens Hajnówka beginnt die Rückführung mit der Eisenbahn. Das Bahnhofsgebäude ist verlassen und trotz allem reizvoll (Bild). Maske auf und durch! Zwei Mal umsteigen und nach vier Stunden Hop-On-Hop-Off – es zieht viel Holz und Landwirtschaftsfläche am Fenster vorbei – rollt der Zug in Warschau Wschodnia ein. Für die restliche Strecke bis zum Mobilheim-Platz wäre die Beschreibung trostlos eine fahrlässige Untertreibung. Der Campingplatz kann es noch besser: eingezwängt zwischen einem Wisła- (Weichsel) Arm und einer Autobahn, ohne Dusche, dafür mit vielen kleinen garstigen Mistviechern. Ein verschärftes Kontrastprogramm zu den Nächten davor. Da hilft nur eines, den heutigen Tag schnell wegschlafen!

Sprechübungen, Achtung Büffel und die Endstation ist erreicht


  1. Tag: Donnerstag, 24. September

Strecke: Stary Dwór – Białowieża

Streckenlänge: 45 km

«Dzień dobry!» Guten Tag, jerde/r wird begrüßt, allein schon, um das Sprechen nicht zu verlernen. Heute wird wieder aufgesessen auf dem Green Velo Radweg. Ein Verkehrsschild warnt vor Büffeln, es geht durch den Białowieża-Nationalpark wo Europas letzte wilde Wisente leben. Dummer Weise sind die bulligen Viecher sehr scheu und so bietet ein Besuch im Białowieża-Reservat die einzige Möglichkeit so ein Exemplar vor die Linse zu bekommen. Neben den grasenden Riesen beherbergt das Freiluft-Gehege auch brunftige Hirsche, schlafende Luchse, gleichgültige Elche und faule Wildschweine, einzig die Wölfe verstecken sich. Trotzdem, eingezäunte Wildtiere sind das halbe Vergnügen. In Białowieża hat sich eine Art zarter Büffeltourismus etabliert und die weißrussische Grenze ist zum Greifen nahe. Einmal schnell zur Grenze gefahren – tote Hose – die elektrischen Balken sind geschlossen und auch sonst rührt sich nichts.
Białowieża war die letzte geplante Station der Reise, Kopf und Körper sind erschöpft, das Herz traurig, ab morgen beginnt der Weg zurück in das, was «normales Leben» heißt.

Ein Tag der Arbeit, eine Fleißaufgabe und einer nach dem anderen


  1. Tag: Mittwoch, 23. September

Strecke: Ełk – Białystok (Zug) – Michałowo – Stary Dwór

Streckenlänge: 73 km (Radkilometer)

Punkt sechs Uhr, raus aus dem wärmenden Schlafsack! Heute wird eine Teilstrecke per Zugfahrt überbrückt. Wieder in Richtung Osten, wieder nach Białystok, ein Umsteigebahnhof auf der Anreise. Ähnlich wie Ełk kann auch Białystok überraschen, fern ab von Tourismus-Pfaden präsentiert sich eine lebendige Stadt.
Den Masuren wird der Rücken gekehrt und es führt der Weg zurück in die Woiwodschaft Podlachien. Der Unterschied? Statt roten Backsteinbauten beherrscht, ähnlich wie in den baltischen Ländern, die niedrige Holzbauweise das Landschaftsbild. Heute ist kein Tag für Schöngeister, heute ist ein Tag der Arbeit. Ein Zubringertag. Dafür vom Start bis zum Ziel fast ausnahmslos auf Asphalt. Die einzige Aufregung breitet wieder einmal die Kulinarik. Das Camping-Wirtshaus ist bereits auf Winterpause und der nächste Sklep (Gemischtwarenhandlung) sechs Kilometer in Herkunftsrichtung entfernt, wir hatten bereits das Vergnügen. Eine tour-retour zwölf Kilometer lange Fleißaufgabe zur Verbesserung der Tagesleistung. Ein Detail am Rande, die streng nach Corona-Regelung amtierende Besitzerin lässt pro Geschäftsanbahnung nur eine Kundschaft in ihr Reich: Bitte warten, einer nach dem anderen!
Das Mobilheim steht übrigens wieder an einem Gewässer (Stausee Siemianówka), aber das ist inzwischen auch nichts mehr Neues.