Schriller die Glocken nie klingen, Alltagsgeschichten und Ełk sei Dank!


  1. Tag: Dienstag, 22. September

Strecke: Wiartel – Pisz – Ełk

Streckenlänge: 63 km

Ein bisserl die Wildtiere aus dem Wald, zwischendurch die Enten, manchmal springt ein Fisch, aus der Entfernung bellen Hunde, aber mit Abstand den meisten Lärm verursacht die katholische Kirche mit ihrem unerbittlichen Glockengebimmel. Ansonsten: vorgestern war ähnlich, gestern war gleich, insofern nichts Neues im Osten – darum zum Alltäglichem:

Sprache:
Buchstaben mit Strichen oben und unterhalb, eine Herausforderung für die Wiener Zunge. Sich Ortschaften merken – Fehlanzeige! Nur die Grundfloskeln haben sich eingebrannt: Guten Tag. Auf Wiedersehen. Bitte. Danke. Ein Erfrischungsgetränk!

Essen:
Ein Highlight sind die polnischen Suppen: Żurek (Sauermehlsuppe),
Barszcz (Rote Rübensuppe), Flaki (Kuttelsuppe), … Nur ist die Nahrungsaufnahme ist immer ein Lotteriespiel, Wirtshäuser sind spärlich gesetzt. Der letzte Ausweg ist der Sklep.

Sklep:
Gemischtwarengeschäft für den wichtigsten, täglichen Bedarf: Häuselpapier, Grundnahrungsprodukte, Erfrischungsgetränke. Nicht jede Ortschaft hat einen.

Städte:
Die norostpolnischen (Klein-)Städte geizen mit ihren Reizen, wo der Tourismus aufhört, fängt das Elend an. Um auch etwas Positives zu vermelden, auf den Hauptdurchzugsstraßen ist Radfahren verboten, dafür gibt es alternativ sehr großzügig angelegte Radwege.

Ortschaften:
Nicht immer sind alle Straßen asphaltiert, Hunde sind angeleint, das Eigenheim alarmgesichert und nur jede fünfte Ortschaft verfügt über einen Sklep.

Vögel:
Wie die meisten Touristen haben auch die Störche das Land bereits verlassen, verwaiste Behausungen überall.

Der Tagesabschluss hat noch eine Überraschung parat – Ełk! Ełk liegt abseits der masurischen Seenwelten, Ełk hat seien eigenen See und Ełk ist eine Stadt für die Menschen, die hier leben und nicht nur für Besucher_innen. Kinder spielen auf Spielplätzen, Liebespaare turteln auf der Seepromenade, es gibt ausreichend Lokale und einen wunderbaren Campingplatz. Alle Strapazen des Tages rücken – Ełk sei Dank! – in den Hintergrund.

Langer Tag, kurzer Blog


  1. Tag: Montag, 21. September

Strecke: Rydzewo – Mikołajki – Ruciane Nida – Karwica – Wiartel

Streckenlänge: 85 km

Die Tage wiederholen sich, alle Bilder waren irgendwann schon einmal gesehen. Das Vorhaben heute nur Asphaltwege zu befahren war nicht durchzuhalten – unterm Strich halbe-halbe – das Stimmungsbarometer war auch schon einmal in anderen Sphären. Das Mobilheim steht wieder einmal solo am Platz, die Beine sind müde, die Birne auch. Langer Tag, kurzer Eintrag, gute Nacht.

Eine graue Decke, eine Schifferlfahrt und eine ungeplante Tortur am Tag des Herrn


  1. Tag: Sonntag, 20. September

Strecke: Rydzewo – Mikołajki – Rydzewo

Streckenlänge: 36 km

Weitblick ade, der See versteckt sich unter einer dichten hellgrauen Decke. Das Mobilhaus bleibt heute auf seinem Platz, Rad und Fahrer besteigen ein Ausflugsschiff in Richtung Mikołajki, im Rückblick ein Fehler: Schifferlfahrten über zwei Stunden haben etwas Grausames an sich, vor allem bei Temperaturen um die zehn Grad und das in kurzer Hose. In einem der Kanäle wettstreiten Angler_innen im Rahmen einer Competition um den fettesten Fisch.
Das ehemalige Fischerdorf Mikołajki hat sich zu einem Zentrum entwickelt und ist auf Tourismus gebürstet: Hotelanlagen, Hafenpromenade, Souvenir-Kitsch, Ess- und Trinkmeile. Inzwischen hat sich die Wolkendecke gelüftet und die Temperaturen klettern in den Wohlfühlbereich. Trotzdem hält sich das Bedürfnis zu verweilen in Grenzen. Gemütlich auf zwei Rädern und auf Nebenrouten wird die Spur aufgenommen zurück zum Mobilheim. Mr. Google berechnet für seinen Routenvorschlag knappe eineinhalb Stunden. Eine Spazierfahrt. Es kommt anders, kurz nach der Stadtausfahrt endet der Asphalt, es beginnt eine Tortur auf größtenteils Sandstraßen unterbrochen von Abschnitten ausgelegt mit dem gefürchteten Kopfsteinpflaster aus Vorkriegszeiten. Durch Wälder und Prärie, ohne Menschen, ohne Tränke verschlingt die vermeintliche Sonntagsausfahrt ganze drei schweißtreibende Stunden bis zum besten Bier der Welt. Morgen wird auf Romantik gepfiffen und auf asphaltierte Hauptrouten vertraut!

Quasi Quarantäne, von See zu See und ein lebendiges Dorf


  1. Tag: Samstag, 19. September

Strecke: Węgorzewo – Giżycko – Rydzewo

Streckenlänge: 42 km

Die Tage wiederholen sich, Instant-Kaffee vom Gaskocher am menschenleeren Campingplatz. Einzig ein Arbeiter hat sich der Aufgabe gestellt eine Blechhütte mit frischer Farbe zu versehen. Leiter gibt es keine und um die höheren Lagen zu erreichen wird gestapelt – ein Podest, darauf ein wackeliger Sessel – sehr kriminell! Bis zur Abreise ist nichts passiert …
Auch im Kerngebiet der Masurischen Seenplatte bewegen sich nur wenige Menschen. Herbst? Corona? Auf welcher Farbe die Corona-Ampel auch stehen mag – wurscht! – auf Nord-Polen-Reise gibt es so gut wie keine Kontakte. Quasi Quarantäne.
Ein See folgt dem nächsten. Gefahren wird auf Asphalt, Sandwegen und Kopfsteinpflaster. Bei den Sandwegen ist Gefühl gefragt, sonst vergraben sich die Reifen, ein Geduldspiel. Auch das grobe Kopfsteinpflaster bringt keinen Frohsinn, großteils stammt es aus Zeiten vor dem letzten großen Krieg, als die Masuren noch ein Teil Deutschlands waren. Giżycko ist eines der Zentren zwischen den vielen Seen und es gilt selbiges wie für alle bisherigen Kleinstädte – schnell wieder raus aus der Stadt und rein in’s Land. Die heutige Endstation ist anders: Ein See (Boczne See), ein kleines Nest entlang einer Nebenstraße, ein Campingplatz mit Besucher_innen. Darüber hinaus vier geöffnete Gaststätten, eine davon mit Live-Musik unter freien Himmel. Nix mehr Isolation, trotzdem bleibt alles im „Grünen Bereich“!

Der Green Velo, eine Überdosis Landschaft und ein realsozialistischer Campingplatz


  1. Tag: Freitag, 18. September

Strecke: Gołdap – Bani Mazurskie – Węgorzewo

Streckenlänge: 64 km

Der Gołdap-See, der bis über die Grenze nach Russland reicht, liegt ausgebreitet wie eine Decke vor einem völlig ausgestorbenen Campingparadies. Im Wasser baden Wildenten in der Morgensonne.
Schon seit Beginn der Reise kreuzt immer wieder der Green-Velo-Radweg die eingeschlagene Spur, so auch in Gołdap. Diesmal wird das Angebot angenommen. Der «Green Velo» (https://greenvelo.pl) führt über 1885 Kilometer von Elbląg im Nordwesten an der Ostsee bis knapp an die slowakische Grenze im Südosten des Landes. Immer entlang der Grenze und perfekt ausgeschildert! Somit verlegt sich die heutige Etappe vom Asphalt der Landstraßen auf Schotter- und Wald-Straßen durch eine Überdosis an Landschaft. Dörfer müssen durch Abweichungen von der Route extra angefahren werden. Einmal abgebogen vom grünen Band, rollen die Räder samt gut durchgeschütteltem Fahrer in Węgorzewo ein. Wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt Camping Rusałka direkt am Święcajty-See. Der Campingplatz war Schauplatz in einem Arno Surminski Roman, «Polninken», einer tragischen Liebesgeschichte zwischen Ost- und West-Deutschland – Empfehlung! Teilweise präsentiert sich Rusałka wie anno dazumal in realsozialistischen Zeiten.
Schluss jetzt, es ist höchste Zeit: Körper- und Wäsche-Pflege sind dringend notwendig.

Starke Winde, ein Dreiländereck und Launen des Lebens


  1. Tag: Donnerstag, 17. September

Strecke: Wiżajny – Gołdap

Streckenlänge: 50 km

In der Nacht tobt ein Sturm und dicke Regentropfen klopfen auf das Dach. Das Mobilhaus steht wie angewachsen. Schlechtwettertest bestanden. Zum Abschied gibt es ein Gastgeschenk der Vermieterin in Form von lokalem Käse!
Heute verbindet Start und Ziel nur eine einzige Landstraße. Der Regen hat sich verzogen, der stürmische Wind ist geblieben. Nach wenigen Kilometern ist das Dreiländereck zwischen Polen, der russischen Exklave Kaliningrad und Litauen erreicht. Ein Obilisk, Warn-/Hinweis-Tafeln, ein Zaun – ein Schnappschuss und zurück auf die Piste. Die Woiwodschaft Podlachien geht in die Woiwodschaft Ermland-Masuren über, landschaftlich ändert sich nichts. Es geht entlang der Rominter Heide, ein ausgedehntes Waldgebiet zwischen Polen und Russland ausgestattet mit einer artenreichen Fauna. Für die Elche, Hirsche, Wölfe und Luchse, die da wohnen, fallen Grenzkontrollen aus. Das Wetter kann sich heute nicht entscheiden – Sonne, Wolken, Regentropfen wechseln sich ab, nur der Gegenwind bleibt standhaft. Es gibt Tage, die sind gut, welche, die sind besser und solche, die man gar nicht braucht. Ähnlich verhält es sich mit der Einsamkeit, die ist manchmal sehr „leiwand“, oft aber auch sehr „g’schissn“! So verlangt es das Leben und es passt auch so. Fest treten hilft den Kopf wieder gerade zu richten …
Themenwechsel. Das Problem mit der Nahrungsaufnahme bleibt aufrecht. Gehen die Pol_innen nur in die Kirche und nicht ins Wirtshaus? Ein Land von Selbstversorger_innen? Beginnt der Winterschlaf bereits Mitte September? Auch der Campingplatz am Gołdap-See ist dicht verrammelt, natürlich auch die Sanitäranlagen – muss eben die Natur herhalten. Das Mobilheim wird trotzdem aufgebaut. Und überhaupt, ein gutes Flascherl in Rot wirkt Wunder!

Ruhestörungen, Hügelwelten und Probleme mit der Nahrungsaufnahme


  1. Tag: Mittwoch, 16. September

Strecke: Stary Folwark – Suwałki – Wiżajny

Streckenlänge: 58 km

Der Lärm von röhrenden Hirschen und schrägem Federvieh verhindern einen ausgedehnten Morgenschlaf … Übergang zur Routine: Kaffee kochen, Zelt auftrocknen, Geräte laden, Abreise vorbereiten. In kleinen Schritten durch das Land. Da es kein wirkliches Ziel der Reise gibt, lassen sich die einzelnen Etappen gemütlich eindampfen. Rund um 50 Kilometer sind genug!
Eine Bundesstraße mit begleitendem Radweg, das polnische Radwegnetz kann sich sehen lassen, führt nach Suwałki, der letzten größeren Stadt im Nordosten des Landes. Die Hoffnungen auf ein Ham-And-Eggs-Frühstück werden bald begraben, stattdessen gibt es Erdäpfel-Bohnen-Suppe. Auch sehr gut. Die Polen sind die unumstrittenen Europameister im Suppen-Essen – 78 Liter pro Kopf im Jahr!
Kurz nach der Stadtausfahrt beruhigt sich der Verkehr und nahezu autofreie Landstraßen führen Richtung Norden. Auch die Landschaft verändert sich, das Flachland erwächst zur anspruchsvollen Hügellandschaft. Oben angekommen bedecken Felder und Weideflächen das Land, zwischendurch eingestreut Seen und Mischwälder. Im Vergleich zu den heimischen Rindviechern haben die polnischen ihren Kopfschmuck bewahrt. Und auch heute schwächelt die Infrastruktur, dazu kommen zwei selbstverschuldete «Verfahrer» bis die Räder in die heutige, einsam, aber romantische, Bettenstation einrollen. Diesmal ganz ohne Nachbar_innen!
Zum Schluss noch was zum Lachen: Die drei von Mr. Google angekündigten Gastwirtschaften sind entweder außer Betrieb oder existieren nicht. Egal, es gibt ja Nudeln im Sackerl! Aber, den eingekauften Spaghetti-Bolognese fehlen dummer Weise die Spaghetti (nur die Sauce eingekauft!). Der heutige Speiseplan kling somit wie folgt: Bolognese-Suppe mit Brot. Und auch der Broteinkauf ist in die Hose gegangen, die Heidelbeerfüllung war nicht gekennzeichnet. Morgen muss (kulinarisch) besser werden!

Polen wie Finnland, Menschen auf Schwammerlsuche und der Untergrund macht die Musik


  1. Tag: Dienstag, 15. September

Strecke: Studzieniczne See – Płaska – Bryzgiel – Stary Folwark

Streckenlänge: 50 km

Die Forelle vom Grill war ein Gedicht und die polnischen Nächte sind bereits herbstlich kühl. Rein in den wärmenden Schlafsack und die Augen zu.
Während der Instantkaffee kocht, arbeitet sich die Morgensonne hinter den Bäumen empor. Der Nordosten Polens erinnert landschaftlich an Finnland – viel Holz, viel Wasser, viel Gegend, wenig Menschen. Wenn Menschen unterwegs sind, sind sie ausgestattet mit Kübeln und Sackerln und sind auf der Suche nach Schwammerln. Das große Plus für Polen gegenüber Finnland, die Mistviecher (Gelsen; hochdt. Mücken) sind in Polen weniger zahlreich vertreten und auch die Bierpreise sind überdeutlich freundlicher. Die Räder rollen in Richtung Norden, dem Wigry-Nationalpark, nahe Suwałki entgegen. Auf wenig befahrenen Landstraßen oder auf verschlungenen Waldwegen. Der Untergrund macht die Musik: Teils über Stock, Wurzelwerk und Stein, sind die herausforderndsten Bodenbeläge die Sandpfade. Diesmal steht das Mobilheim am Wigry-See und auch hier hält sich der Andrang an Campern in Grenzen, einzig ein zweites Zelt mit gehörigem Respektabstand. Als Draufgabe befindet sich eine Gaststube in unmittelbarer Nähe und die vorsorglich eingekaufte Notration an Instant-Nudeln bleibt vorerst im Packerl!

Hauptsächlich Zugabteile, eine Radkurzstrecke und großes Glück


  1. Tag: Montag, 14. September

Strecke: Warschau – Białystok – Augustów

Streckenlänge: 10 km (Radkilometer)

Anreisetage haben nichts Romantisches. Raus aus dem Zug, rauchen, einkaufen, Gleis wechseln, rein in den Zug. Die Reiseproviantversorgung läuft nicht nach Plan – massenweise gekühlte Jugendgetränke, hingegen gestaltet sich die Suche nach Erfrischungsgetränken für Erwachsene eher schwierig. In Warschau, ebenso wie in Białystok, wo der Bahnhof gerade frisch renoviert wird. Das Bild in den Zügen ist nicht anders als zu Hause – Menschen ohne Mund und Nase. Die Garnitur in Richtung Suwałki ist am neuesten Stand, freies Internetz inklusive. Die einzige Ostromantik, die Zugführerin bekommt bei einem Aufenthalt, als Gastgeschenk der lokalen Bäuer_innen, einen Sack Äpfel. Am späten Nachmittag rollt der Zug dann doch in Augustów ein und das Tagesziel – Campingplatz, Essen, Trinken, Schlafen – rückt ein Stück näher. So der Plan. Schon die ersten Radkilometer entlarven die Probleme der kommenden Tage: In Nordost-Polen ist die Saison bereits gelaufen. Geschlossene Lokale. Geschlossene Campingplätze. Am Studzieniczne See findet sich ein Zelt-Platzerl, nur der Gastwirt ist auf Schwammerlsuche. Mit vereinten Kräften, ein polnisches Radler_innen Pärchen hat sich ebenfalls in dieser idyllischen Ecke verirrt, gelingt eine Rückholaktion. Der Wirt verspricht ein Fischmenü. Noch einmal Glück gehabt!

Tag fast vorbei, ein wilder Löwe und schlafen im gemachten Bett


  1. Tag: Sonntag, 13. September

Strecke: Nachtzug Wien – Warschau

Eigentlich ist mit der Überschrift bereits alles erzählt. Der 13. September ist auf alle Fälle kein Lieblingstag, aber das würde zu weit führen … Gut, dass er bald vorbei ist! Das Gasthaus «Wilder Löwe» serviert die letzten Drinks und das 3er-Schlafwagenabteil steht mir ganz alleine zur Verfügung. Das Bett ist bereits gemacht, die Müdigkeit ist übermächtig, in diesem Sinne – gute Nacht!