Rodeln an der Mauer, ein Wachturm trägt Mütze, Geschichte wird Geschäft


Mittwoch 14. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Bernauer Straße – Nordbahnhof – Brandenburger Tor – Potsdamer Platz – Checkpoint Charlie – Schillingbrücke – quer durch die Stadt zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 20 Kilometer      Gehzeit: ca. 7 h

Die „Rumbalotte“, vorübergehend in alten Brauereigemäuern eingemietet, war programmfrei und somit leider geschlossen. Dafür gab’s in der empfehlenswerten „Bornholmer Hütte“, einer Traditionskneipe mit über 100jähriger Vergangenheit, ein richtiges Berliner-Menü: Bockwurst, Boulette, Kartoffelsalat.
Heute bleibt das Brompton zusammengefaltet. Der Verlauf der Mauer durch die Stadt will erwandert werden. Der Mauerpark (Start) grenzt an die Bernauer Straße, die 28 Jahre lang von der gleichlaufenden Eberswalder Straße getrennt war. Hier ermöglichte ein Podest auf westlicher Seite Tourist_innen und Berliner_innen einen Blick über die Mauer in den Osten. Wie im Zoo. Zahlreiche Hinweistafeln, großflächige Fotos und Hörbilder erzählen von geglückten Fluchten, Todesfällen, und schmerzhaften Trennungen. In den Brachlücken werden Nordland-Tannen verkauft. An der Gedenkstätte Bernauer Straße steht noch ein 200 Meter langes Stück originaler Mauer. Es folgen Reichstag, Brandenburger Tor und der Potsdamer Platz. Mit jedem Schritt werden die Szenen skuriller. Eine Winterrodelbahn samt angeschlossenen Punschständen sorgen für Hüttengaudi gleich neben dem Mauerstreifen. In der Erna-Berger-Straße unweit des Potsdamer Platzes trägt ein ehemaliger Grenz-Wachturm eine Weihnachtsmann-Mütze XXL. Curry On The Wall verkauft Würste und am Checkpoint Charlie gibt es Russenmützen im Sonderangebot. Die Mauer wird zum Rummelplatz. Schnell weiter. Verwinkelt schlängelt sich die Mauerführung durch Kreuzberg. Wer sich nicht sicher ist, wo jetzt der ehemalige Osten liegt, orientiert sich am besten an den Neubauten, da war einmal Osten. Kreuzberg ist eine einzige, große Baustelle. Nach Überquerung der Schillingbrücke schließt sich der Kreis. Die 160 Mauerkilometer sind komplett. Nach den vierzehn heute abgegangenen Kilometern brennen die Sohlen. „Habe fertig!“ (© Giovanni Trapattoni), auf in die Kulturbrauerei.

Seenplatte, Grüner Wald und Häuserkampf in Prenzlauer Berg


Dienstag 13. Dezember

Strecke: Mandelstraße – mit der S-Bahn bis Wannsee (Start der 4. Mauerradweg-Strecke) – mit der Fähre nach Kladow – Groß Glienicke – Staaken – Spandau – Henningsdorf (Ende der 4. Mauerradweg-Strecke) – mit der S-Bahn in die Mandelstraße

Streckenlänge: 40 Fahrradkilometer Fahrzeit: ca. 3 h

So ein Heimabend wirkt Wunder. Rundum fit beginnt die vierte Teilstrecke mit einer Bootsfahrt über Wannsee und Havel nach Kladow. See folgt auf See. Am Groß Glienicker See steht noch ein kleines Mauerreststück und lässt in einer malerischen Kulisse das Unvorstellbare erahnen. Geschichte „er-fahren“ nennt es der Grün-Politiker und Vater des Berliner Mauerradwegs Michael Cramer. Der ehemalige Todesstreifen wird grün und legt sich wie ein Gürtel um die westliche Berlin-Hälfte. Der Artenreichtum von Tier- und Pflanzenwelt floriert im einstigen Sperrgebiet. Ab Spandau führt das sanfte Asphaltband durch den „Grünen Wald“. Grün, nicht durch das Laub, das sich längst braun gefärbt hat und die ebene Erde bedeckt. Grün, durch die von Moos bewachsenen, kahlen Baumstämme. In Henningsdorf ist wie gestern (aus anderer Richtung kommend) Endstation. Berlin am Rand ist abgeradelt, morgen wartet die Kernzone. Davor allerdings gibt es heute wieder abendliches Kulturprogramm. Der Kulturverein „Rumbalotte Continua“ (http://www.rumbalotte-continua.de) musste vor wenigen Jahren Prenzlauer Berg verlassen und wohnt inzwischen im nördlichen Pankow. Der Häuserkampf tobt, die Mietpreise wachsen ins Unermessliche, die Gentrifizierung ist nicht aufzuhalten. Die eingesessenen Ostler sind not amused und so steht auf Häuserwänden zu lesen: „Liebe Schwaben, wir wünschen euch schöne Weihnachten und bitte bleibt zu Hause!“

Es steppt der Bär, das Wunder von der Bornholmer Straße und ein wohlverdienter Heimabend


 

Montag 12. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Mauerpark (Start der 3. Mauerradweg-Strecke) – Bornholmer Straße – Wollankstraße – Glienicke – Hohen Neuendorf – Henningsdorf (Ende der 3. Mauerradweg-Strecke)- mit der S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 48 Radkilometer      Fahrzeit: ca. 4 h

Die Vernunft hat abgesagt. Kultur. Party. Ende? Nie! Dabei hat alles unverfänglich mit einer Sonntagslesung begonnen. In der Luxus Bar in der Prenzlauer Allee performt Hermann Jan Ooster über den „Rhythmus der Hörgeräte“ und Kai Pohl verordnet seinen „literarischen Notfallsplan“. Auf Kunst folgt Gin-Tonic. Ein Funken Denkvermögen führt dann doch nach Hause. Routinen werden gekippt: Boulette statt Rührei zum Frühstück. Alles anders. Um die Mittagszeit wird das Brompton entfaltet und die Route wird gegen den Uhrzeigersinn umgekrempelt. Ein Prachttag. Der Mauerpark in Prenzlauer Berg ist der heutige Null-Kilometer. Etwas nördlicher der ehemalige Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Bösebrücke schrieb am 9. November 1989 Weltgeschichte als um 22.30 Uhr der Grenzübergang für alle Besucher aus dem Ostteil der Stadt geöffnet wurde. Der Anfang vom Ende der DDR. Immer den S-Bahn-Gleisen entlang dünnt sich die Stadt aus. Am Köppchensee an der nordöstlichen Stadtgrenze wird das pulsierende Berlin zur Ruheoase. Lange Geraden führen durch den Berliner Forst und die Stolper Heide bis nach Henningsdorf. Schluss für heute, jetzt beginnt ein wohlverdienter Heimabend ohne Ausgang.

Eine landschaftlich romantische Ausfahrt durch die finstere Geschichte


Sonntag 11. Dezember

Strecke: Mandelstraße – Volkspark Friedrichshain – mit der S-Bahn bis Lichtenrade (Start der 2. Mauerradweg-Strecke) – Marienfelde – Teltow – Dreilinden – Klein Glienicke – Wannsee (Ende der 2. Mauerradweg-Strecke) – mit der S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 45 Radkilometer     Fahrzeit: ca. 3 h 30 min

Sonntag Morgen. Die Straßen leergefegt und die ansonsten überfüllten Straßenbahnen fahren einsam durch die Gegend. Der Bär ist müde, Berlin schläft noch. Selbst der Alex vergräbt seinen Kopf unter einer dicken Wolkendecke und es tröpfelt am Asphalt. In den ersten Tagen zeichnen sich bereits einige Routinen ab: Lecker Frühstück und Netzzugang gibt es bei einem türkischen Bäcker/Lebensmittel-Laden nahe dem Volkspark Friedrichshain, die Ring-S-Bahn ist neben dem Brompton das Hauptverkehrsmittel und in der Bierquelle, einer Raucherkneipe auf der Greifswalder Straße, entsteht der tägliche Blog. Ab Lichtenrade wird die Mauerspur wieder aufgenommen. Die heutige Etappe ist etwas kürzer bemessen. Das Wetter ist bescheiden, der Kadaver ist müde. Es geht durch Felder, Wälder und Kirschbaumalleen, immer den Kolonnenweg entlang bis sich nahe Potsdam eine Seenlandschaft ausbreitet. An den Rändern hat sich die Natur den Mauerstreifen zurückerobert, eine wildromantische Strecke, wären am Wegesrand nicht all die Erinnerungstafeln an die unzähligen Maueropfer. Die Fotokamera verbringt den Großteil der Strecke unter der Regenhaut, die fotografische Ausbeute des heutigen Tages wird somit dürftig ausfallen. Finster wirds, am Wannsee endet die sonntägliche Ausfahrt. Das abendliche Kulturprogramm wird diesmal zeitlich beschränkt, der Körper fordert sein Recht auf Schlaf.

Metal-Kneipe, Mauer-Zirkus, Berlin am Rand


Samstag 10. Dezember

Strecke: Mandelstraße – East Side Gallery (Start der 1. Mauerradweg-Strecke) – Oberbaumbrücke – Sonnenallee – Gropiusstadt – Lichtenrade (Ende der 1. Mauerradweg-Strecke) – mit S-Bahn zurück in die Mandelstraße

Streckenlänge: 50 Radkilometer       Fahrzeit: ca. 4 h

Die letzte Station des gestrigen Abend ist die Metal-Kneipe „Blackland“ zwecks Netzzugang. Live-Musik-Dröhnung inklusive. Trotzdem frisch gestaltet sich der Tourstart. Die East Side Gallery ist die denkbar schlechteste Wahl für den Einstieg in den Mauerradweg. Das längste noch erhaltene Mauerstück, ist ein touristischer Hotspot. Zwei sich Bussi gebende ältere Männer („Bruderkuss“ von Leonid Breschnew und Erich Honecker) haben Busladungen von Knipser_innen zur Folge. Die Mauer verkommt zum Zirkus, zu einem gruseligen Disneyland. Eine Stop-And-Go-Etappe führt zur Oberbaumbrücke. Die letzten Übriggebliebenen der vergangenen Nacht mühen sich von Friedrichshain über die Spree nach Kreuzberg. Langsam kehrt Ruhe ein. Eine Doppelreihe Kopfsteinpflastersteine markiert den innerstädtischen Grenzverlauf. Verwinkelt und für Spätgeborene kaum real vorstellbar. Ein einsamer ehemaliger Wachturm in Alt Treptow, inzwischen sehr bunt, steht orientierunglos im Park. In Folge wird der ehemalige Grenzverlauf geradliniger und ländlicher. Statt einer Mauer trennt aktuell eine Autobahn die Stadtteile. Felder, Wiesen, kleine Teiche, sehr viel Gegend, bis sich die Gropiusstadt im Hintergrund abzeichnet. Der ehemalige Mauerstreifen ein Erholungsgebiet für Jogger, ein Auslaufgebiet für Hunde samt Besitzer_innen. Am Bahnhof Lichtenrade ist vorerst einmal Endstation, das Brompton wird gefaltet und die S-Bahn bringt es nach Hause. Der Kopf ist voll, der Bauch ist leer. Die lieben Freunde sind am Kochen! Die Metal-Kneipe lass ich heute aus.

Musikalischer Advent, quer durch Berlin und eine Wiener Berliner Freundschaft


Freitag 09. Dezember

Karte

Strecke: Sigmundsgasse (Spittelberg) – Wien Schwechat – Berlin Tegel – Mandelstraße (Prenzlauer Berg)

Gestern Abend mitten im Achten konzertierte noch der wunderbare Gitarrist Gottfried Gfrerer im Rahmen des Wiener Musikalischen Adventkalenders. Heute Abend wartet polnische Gastlichkeit in Prenzlauer Berg mitten in Berlin. Dazwischen liegen eine Radkurzstrecke zum Wiener Flughafen, eine polizeiliche Verwarnung wegen ungebührlichen Wasserlassens (Einzelheiten würden jetzt zu weit führen), eine Flugkurzstrecke nach Berlin und der Hauptgrund: die Pflege einer wunderbaren Wiener-Berliner-Freundschaft. Ein weiterer Hauptgrund ist eine Extra-Exkursion im Rahmen der Eisernen-Vorhang-Radtour – der Berliner-Mauerradweg – einmal rund um West-Berlin. Warum im Dezember? Darum: Flucht vor dem Wiener-Weihnachtsmarkt-Wahnsinn (kurz WWW) und die Hoffnung, die kapitalistische Unvernunft auswärts besser zu ertragen. Die ersten Berliner Faltrad-Kilometer sind inzwischen abgeradelt, einmal quer durch die Stadt: Schloss Charlottenburg, Bahnhof Zoo, Gedächtniskirche, Siegessäule, Brandenburger Tor, Unter den Linden, Alexanderplatz, Alex, …  Kurz vorm Ziel grüßt Ernst Thälmann. Zu Hause. Jetzt werden die Berliner Freunde geherzt.

Wieder in Wien, Rochusmarkt-Bande und Zusammenfassung


16. Tag, Samstag 1. Oktober

Karte

Strecke: Riga – Wien (Flug)

Riga vier Uhr in der Früh. Wenig Schlaf, mit dem Taxi zum Flughafen. Wenige Stunden später, wieder in Wien. Genauer, vereint mit der Rochusmarkt-Bande, nach erledigtem Einkauf, beim allsamstaglichen Jour fixe am Würstelstand. Schön!

Die Zusammmenfassung:
Strecke: St. Petersburg – Riga
Länder: Russland, Estland, Lettland
Gefahrene Kilometer: Gesamt (968 km), mit dem Rad (683 km), Zug (175 km), Bus (110 km)
Grenzübertritte: 2
Reisetage: 16
Bettstationen: 12 verschiedene Betten, davon drei (St. Petersburg, Tallinn, Riga) doppelt belegt

Vielen Dank fürs Lesen, Liken, Begleiten und für euren Zuspruch. DANKE!

Im Dezember geht es weiter mit dem Berlin-Mauerradweg.

Alles Liebe & Dank
Mario & Angela

Kosmetische Korrektur, Zielfoto und Halli Galli


15. Tag, Freitag 30. September

(Strecken-Karte St. Peterburg Riga)

Strecke: Riga

Stadtrundfahrt: 7 km

Die letzte Radetappe hat gestern unerwartet, abrupt geendet. Irgendwie ein Schönheitsfehler in der Chronologie. Also packen wir unsere Räder heute noch einmal aus und drehen eine Ehrenrunde durch Riga, samt hochoffiziellem Zieleinfahrt-Gruppen-Foto.
Riga ist die größte der baltischen Hauptstädte. Die Altstadt liegt an der Daugava (Düna) und ist ein ähnliches Museumsdorf wie Tallinn. Allabendlich überfüllt von vergnügungssüchtigen, grölenden Touristen-Horden. Außerhalb des Altstadtringes ändert sich das Stadtbild schlagartig. Da fällt mir prompt ein Sigi Maron Song (Text: Fritz Nussböck) ein: „S’Lebn is hoat in Favoriten“. Aber das würde jetzt zu weit führen … Wir finden dennoch unser Wohlfühlplatzerl und stoßen an auf unseren letzten Abend. Alles inklusive: „Es war großartig!“

ps: Morgen folgt der Abschlussbericht.

Kein Netz, erst Kurzstrecke, dann Bus


14. Tag, Donnerstag 29. September

Karte

Strecke: Häädemeeste – Jaagupi – Kabli – Ikla (EST) – Ainazi (LV) – Riga

Streckenlänge: 28 km Fahrzeit: 1 h 35 min

Strecke: Ainazi – Riga mit dem Bus – 110 km, Fahrzeit: 2 h 20 min

Der zeitverzögerte frühmorgendliche, aber eigentlich gestrige Blog, hat möglicherweise für Verwirrung gesorgt. Schuld daran war nicht das Wirtshaus, schuld daran war das zwar angekündigte, dennoch nicht vorhandene Internetz. So sind wir heute sehr zeitig in die örtliche Bücherei (Geheimtipp) gepilgert, die zwar noch geschlossen war, trotzdem ließ sich das Netz anzapfen.
Die letzten 28 Kilometer bis zur lettischen Grenze waren nicht nur theoretisch ein Katzensprung. Eine ruhige, kaum befahrene Landstraße und wie immer, rechts außen nach dem Waldstreifen, das Meer. Der Grenzübertritt war nach über einer Woche Estland etwas wehmütig. Die lettische Willkommenspolitik verwehrt uns die Nebenstraßenromantik und bietet uns stattdessen die A1. Wir, nicht blöd, besteigen den Bus. Das entlastet Beine und Nerven und bringt uns einen vollen Tag in Riga. Unseren morgigen, letzten

Schwerverkehr und Wirtshaus statt Dünen


13. Tag, Mittwoch 28. September

Strecke: Pärnu – Uulu – Voiste – Häädemeeste

Streckenlänge: 43 km Fahrzeit: 3 h

Auf idyllischen Pfaden verlassen wir Pärnu. Des Glück is a Vogerl, wenige Kilometer später landen wir auf der Hauptverbindung Pärnu – Riga. Zwei Spuren, in jede Richtung eine, Schwerverkehr inklusive. Ein Entlastungstag sollte es werden. Nur schlanke 43 Kilometer. Theoretisch ein Hupfer. Praktisch ein hartes Stück Mental- und Beinarbeit im (Gegen)Windkanal gegen die vorbeiziehende Blechlawine. Die letzten sechs Kilometer drürfen wir wieder gemächlich der heutigen Endstation entgegentreten. Es beginnt zu regnen und hört nicht mehr auf. Anstatt durch die angeblich höchsten Dünen Estlands zu wandern, begeben wir uns ins örtliche Wirtshaus.