Durchgefroren, hungrig, schweißnass und regentrocken


12. Tag, Dienstag 27. September

Strecke: Paatsalu – Varbla – Töstamaa – Pootsi – Audru – Pärnu (Karte)

Streckenlänge: 82 km Fahrzeit: 5 h 15 min

Die letzte Nacht war sehr speziell. Schon bei der (mitgebrachten) abendlichen Jause war es sehr huschi! Im Zimmer war es später bitterkalt, der kleine Zustellheizkörper arbeitete nach Kräften. Da hilft nur kuscheln!
Der morgendliche Nebel ist die Steigerung dieser ohnehin schon unglaublichen Kulisse. Für den heutigen Streckenabschnitt gilt: „Copy And Paste“ (siehe Tag 11). Da wir alle mitgeführten Vorräte am Vorabend verputzt haben, wird erst einmal bromptonisiert. Die ersten Vitamine in Form von sauren Mostäpfeln bietet der Straßenrand. Bei Kilometer 25 beglückt uns ein Mini-Markt, bei Kilometer 35 gibt es heißen Kaffee. Die Mittagspause folgt im letzten Drittel, hoch über der Erde, dem Himmel ein Stück näher, auf einer einsamen Aussichtsplattform im Wald. Der Himmel bringt uns zum Thema Wetter. Die Liebste verbringt viel Zeit mit dem Kopf in den Wolken und pflegt ihre „gallische“ Angst, dass uns „der Himmel auf den Kopf fallen könnte“. Schlussendlich landen wir erschöpft in der estnischen Sommerhauptstadt Pärnu. Schweißnass, aber regentrocken, so wie jeden Tag. So darf es bleiben.

Landschaftlicher Stillstand, Zahlenspiele und ein Häuschen am Wasser


11. Tag, Montag 26. September

Strecke: Haapsalu – Kabeli – Kirbla – Lihula – Tuudi – Karuse – Paatsalu (Karte)

Streckenlänge: 75 km Fahrzeit: 5 h

Haapsalu im morgendlichen Nebel. Kinder auf dem Schulweg, einige Fischer versuchen ihr Glück auf der Strandpromenade, der Blick in die Ferne ist verschleiert.
Zur heutigen Etappe: „Same procedure as every day“ (aus „Dinner for one“). Und da waren sie wieder, die drei „W“ – Wald, Wiese, Wind. Letzterer verhielt sich heute neutral. Wenn sich über Kilometer so gar nichts tut, geht uns das Radeln, vulgär ausgedrückt, schon ziemlich auf die Eier (diesmal wird nicht gegendert). Bei landschaftlichem Stillstand vertreiben wir uns die Zeit mit Zahlenspielen: Auf vier Häuser kommt eine Busstation, aber nur jede zweite hat ein Sitzbankerl. Für einen Mini-Markt bedarf es so um die hundert Wohneinheiten. Jede sechste Hütte hat einen Hund hinter dem Zaun. Die Holz- überwiegt gegenüber der Plattenbauweise. Und auf dem Asphaltband wird gewarnt vor „Elchen“, „Hirschen“, „über die Straße laufenden Kindern“ und „alten Menschen“.
Inzwischen sind wir beim vierten „W“ gelandet, am Wasser. Keine Menschen außer uns, nur Schilf, Libellen, Windräder und ein Fischerboot. Zeit für eine Jause.

Leere Versprechungen, Gegenwind und ein Traum von Haapsalu


10. Tag, Sonntag 25. September

Strecke: Elbiku – Linnamäe – Haapsalu

Streckenlänge: 39 km Fahrzeit: 2 h 33 min

Schweren Herzens verlassen wir unser Waldhäuschen, mit Balkon und Fliegenpilz vor der Tür. Unterwegs nichts Neues – Wälder, Felder und wieder Wälder. Immer wieder begegnen wir der Warntafel „Achtung Elch“. Alles leere Versprechungen! Auf leichten Rädern, zuerst auf Nebenstraßen, später auf Radwegen, geht es Richtung Haapsalu. Ständig gegen den Wind. Haapsalu ist wahrscheinlich nicht viel größer als Mödling, dafür mit Meer. Und Haapsalu ist genauso kuschelig wie es klingt. Sogar die Einfahrtsstraße mit den unvermeidlichen Einkaufstempeln hat etwas Rührendes. Es gibt einen Bahnhof, allerdings außer Betrieb, ein Eisenbahnmuseum, einen Hafen, eine Strandpromenade, eine Burg mit bestens erhaltener Burgmauer, viel Holzbauweise und ein wunderbares, folkloristisches Wirtshaus. Sogar die liebe Sonne (vormals „gelbe Sau“) hat uns heute den ganzen Tag beleitet. Wir sind bestens bedient.

Eindrücke-Ping-Pong und ein Häuschen im Wald


 

9. Tag, Samstag 24. September

Strecke: Paldiski – Madise – Padise – Harju-Risti – Vihterpalu – Alliklepa – Nova – Tuksi/Bergsby – Läänemaa

Streckenlänge: 78 km Fahrzeit: 5 h 15 min

Wir verlassen die Plattenbaukolonie und treten in Richtung Haapsalu. Die heutige Etappe bietet keine besonderen Sensationen: Landstraßen, Felder, Radwege, Wald, Meer und noch mehr Wald. Die letzte Teilstrecke nervt uns mit einer Sand-Schotter-Piste, teilweise unfahrbar, die Liebste flucht und schiebt! Um uns die Zeit zu vertreiben spielen wir Eindrücke-Ping-Pong:
Angela: Die Est_innen sind besonders rücksichtsvolle Autofahrer_innen.
Mario: Sehr zuvorkommend, aber mit dem Lachen/Lächeln tun sie sich ein bisserl schwer.
A: In Paldiski haben sie nicht viel zu lachen.
M: Die Infrastruktur, also Ess- und Trinkstationen, ist eine Tragödie.
A: Wobei, fast jeder größere Ort hat ein Einkaufszentrum.
M: Da gibt es aber keinen heißen Kaffee und kaltes Bier wird erst ab Zehn verkauft.
A: In einer Absteige wie gestern, ohne Fenster, schlaf ich nicht mehr!
M: Dafür haben wir das bröselnde Russendenkmal gefunden.
A: Die Taverne im Plattenbaukaff war großartig.
M: Großartig ja, aber wir waren die einzigen Gäste.
A: Wo essen und trinken die Est_innen?
M: Zu Hause?
Apropos zu Hause. Heute bewohnen wir ein kleines Traumhäuschen, mitten in der Pampa, mitten im Wald.

Lästige Stadtausfahrt, Wasserfall und das Ende der (Plattenbau)Welt


8. Tag, Freitag 23. September

Strecke: Tallinn – Keila-Joa – Kloogaranna – Paldiski

Streckenlänge: 62 km Fahrzeit: 3 h 55 min

Wir verlassen die Stadt, es wird wieder bromptonisiert. In gemütlichen Dosen. Unsere Betten stehen für heute Nacht in Paldiski, einer ehemaligen russischen Militärbasis auf der Halbinsel Pakri, bis 1989 Sperrgebiet. Noch heute wird auf der Straße und in der wunderbar rustikalen Taverne „Peetri Toll“ russisch gesprochen.
Die Kurzstrecke präsentiert sich anfänglich wenig knusprig. Ödland folgt auf das ewige Trauerspiel Stadtausfahrt, dafür gibt es einen eigenen Radweg neben der Bundesstraße. Die Highlights tauchen spontan auf, wie in Keila-Joa der 70 Meter breite Keila-Wasserfall. Das Ödland wird zur Waldstraße und ein neu angelegter Radweg treibt uns (fast) bis in den heutigen Exporthafen und Plattenbau-Außenposten von Paldiski. Unser Hostel kommt auch noch aus der Zeit vor dem Fall des Vorhangs. Einige Relikte aus den alten Zeiten bröckeln von Grünzeug umrankt vor sich hin. Am Kap thront der höchste Leuchtturm Estlands und die Steilküste erhebt sich 24 Meter aus dem Meer. Das winzige, liebevoll renovierte Cafe wirkt wie der letzte Außenposten am Ende der Welt.

Ein Tag in der Spielzeugstadt: Mauern, Türmchen, Traumpreise


7. Tag, Donnerstag 22. September

Strecke: Tallinn

Heute haben sich unsere Bromptons einen Ruhetag verdient. Der Vorabend war unspektakulär, geplante Exzesse finden nicht statt. Um halb zehn waren wir wohlgeordnet in unserer Bettstation. Da wäre nämlich folgendes: Tallinn präsentiert sich als Schmuckkästchen, besitzt eine großteils erhaltene Stadtmauer, viele Türmchen und viel Schnickschnack. Alles pipifein herausgeputzt. Die Tourist_innen strömen durch die verwinkelten Gässchen, stoßen entzückte Uuuhs und Aaahs aus und berappen fürs große Bier 5,90 Euro! Das geht sich für die Eingeborenen nicht aus, die bewegen sich außerhalb der Spielzeugstadt, wo die Fassaden bröckeln und die Farben verblassen. Da werden die Pfand-Flaschen gesammelt und der Tschick vom Boden fertig geraucht. Aufkommender Regen treibt uns in eine Straßenbahn. Einmal Endstation tour retour. Die Architektur außerhalb der Mauer wirkt zusammengewürfelt, ein typisches Holzhaus neben einem Plattenbau, daneben ein Neubau-Verbrechen. Und trotzdem sind die Ränder, wenn schon nicht schmucker, interessanter. Und eines hab ich noch – Pinkeln ohne Konsumation kostet einen ganzen Euro. Wir wollen wieder aufs Land!

Landflucht, Direttissima und eine Spracheinführung


6. Tag, Mittwoch 21. September

Strecke: Vösu – Kotka – Kahala – Kiiu – Haavakannu – Koogi – Maardu – Tallinn

Streckenlänge: 83 km Fahrzeit: 5 h 33 min

Nein Gelassenheit, Ja Panik! Wir fliehen in die große Stadt auf der Suche nach Lärm, Spaß, Rock’n’Roll und einer Warmwasserdusche. 83 Kilometer im Stück nehmen wir dafür in Kauf. Wir kehren der Holzfällerromantik den Rücken. Das klingt jetzt alles sehr drastisch, verifizieren lässt sich nur der Wunsch nach heißem Wasser. Ungeduscht treiben wir unsere Bromptons und uns selbst zu Höchstleistungen und nehmen die Direttissima-Verbindung. Wir nähern uns von Nord-Osten der Stadt, es folgt Waldfriedhof auf Waldfriedhof. Dann die Stadteinfahrt. Tallinn im Gegenlicht, davor das Meer erste Reihe fußfrei, eine Kaimauer und jetzt: eine Genuß-Tschick!
Abschließend noch eine kurze Spracheinführung: Guten Morgen heißt „Terre Hommikust“, Fluss „Jogi“, Weg heißt „Tee“, Hafen „Sadam“, Käsmu heißt nicht „Milchkuh“ und jetzt Hüvasti – „Baba“.

Nix gelbe Sau, nix Storch, nix Aufregung


5. Tag, Dienstag 20. September

Strecke: Rutja – Vainupea – Vihula – Altja – Vergi – Vösu – Käsmu – Vösu

Streckenlänge: 53 km Fahrzeit: 3 h 35 min

Wir verlassen unsere Waldheimat und tauchen ein in das Buchtenland des Lahemaa Nationalparks. Anfänglich lässt uns die „liebe Sonne“, die uns von Narva an begleitet hat, im Stich. Nix mehr „gelbe Sau“, wie ich sie in den heißen Sommermonaten noch verächtlich gerufen habe. Rechtzeitig zur 11er Jause scheint sie uns wieder gewogen. Wir bewegen uns auf grünen Abwegen. Links der Wald, mittig die Straße, rechts der Wald und ganz rechts außen das Meer. Die Legende erzählt, dass von hinter dem „Suurkivi“ (Großer Stein) in der Bucht von Altja die Babys herkommen. In meiner Kopf-Disco läuft ab sofort der alte Wilfried-Schlager „Mei Baby heißt Hannibal“ auf Dauerrotation. Auch die Landschaft verweigert jegliche Abwechslung und bleibt stur im Gleichklang. Vösu der Hauptort des Nationalparks ist ebenso schlaftrunken wie die Ortschaften davor. Ruhe bis zum Exzess. Die letzte Exkursion des Tages führt uns in das wunderbar klingende Nest Käsmu. Wir sind absolut überentspannt und begeben uns auf die Suche nach ein wenig Aufregung ins einzig ausschenkende Lokal in Vösu.

Überlandromantik, Meeresrauschen und die Tristesse der Kleinstädte


4. Tag, Montag 19. September

Strecke: Saka – Purtse – Aseri – Kunda – Rutja

Streckenlänge: 64 km Fahrzeit: 4 h 33 min

Nach zwei Tagen St. Petersburg wirkt so viel Stille fast gespenstisch. Hin und wieder meldet sich eine Möwe, ab und zu ein Schaf, im Hintergrund eine Prise Meeresrauschen, sonst nix. Der Radtag beginnt auf Schotter- und Steinstraßen, der Radweg ist perfekt ausgeschildert und himmelwärts fasziniert die Flugshow der Vögelwanderung Richtung Süden. Über Land ist alles sehr malerisch – viel Gegend – Felder, Mischwälder, kleine Gehöfte. In den Kleinstädten macht die Romantik Pause: Industrieruinen verrotten am Strand, heruntergekommene Schlafstädte im Plattenbaustil, keine Geschäfte, maximal ein Supermarkt. Ein alter Mann kauft sich billigen Fusel im großen Gebinde. Was hat die EU nach Estland gebracht außer Milka-Schokolade?
Die Holperwege münden in ein graues Asphaltband, schnurgerade, Richtung Kunda. Vor Elchen wird gewarnt, gesehen haben wir keinen. Der Gegenwind ist auch mit im Spiel, die ganze Zeit, ein Killer für die Lust am Rad. Auch Labestationen sind spärlich vorhanden, die Est_innen essen und trinken lieber zu Hause. Unsere heutige Bettenstation liegt mitten im Wald, ein Holzhaus im Nirgendwo. Wurst, Brot und Käse haben wir vorsorglich mitgebracht, auch einen Lustigmacher in der Flasche: Auf Estland!

Teller-Kappen, Flussgrenze und endlich Rad


3. Tag, Sonntag 18. September

Strecke: St. Petersburg (RUS) – Narva (EST) per Zug – 175 km, Fahrzeit 3 h 48 min

Strecke: Narva – Narva Jöesuu – Sillamäe – Toila – Valaste – Saka Streckenlänge: 76 km      Fahrzeit: 4 h 30 min

Alles wie im Kino: Bahnhof St. Petersburg 6.00 Uhr in der Früh. Der Zugbegleiter trägt eine übergroße Teller-Kappe am Kopf, ist sehr freundlich, aber lächeln hat er nicht im Programm. Die Pässe werden einkassiert, dafür gibt es Kaffee aus echten Tassen. Das Zugabteil lässt keine Wünsche offen, die Reisegeschwindigkeit sehr wohl. Die Narva trennt die EU von Russland bis hinein in den Finnischen Meerbusen (Ostsee), ab da verschwimmen die Grenzen. Der Grenzübertritt erfolgt über eine Eisenbahnbrücke. Das Wartehäuschen der Bahnhofstation Narva (EST) ist sowohl Pass- als auch Zollamt. Der eigentliche Aufenthaltsraum ist verwaist und erinnert an das „Salzamt“ (wienerisch für: behördliche Entscheidung ohne rechtliche Einspruchsmöglichkeit). Auf der anderen (russischen) Seite liegt Iwangorod, beide Städte haben ihre Festungen und sind durch die „Brücke der Freundschaft“ miteinander verbunden. Sehr viel Konstruktion, sehr viel Metall, sehr viel Zaun.

Ab jetzt wird endlich wieder bromptonisiert. Vom nordöstlichsten Zipfel der Festland-Festung Europa führt der Weg auf mäßig befahrenen Nebenstraßen bis zur Steilküste nach Saka. Rechte Seite Meer. Ein langer Tag, ein üppiges Abendessen inmitten von Stille.