Landflucht, Direttissima und eine Spracheinführung


6. Tag, Mittwoch 21. September

Strecke: Vösu – Kotka – Kahala – Kiiu – Haavakannu – Koogi – Maardu – Tallinn

Streckenlänge: 83 km Fahrzeit: 5 h 33 min

Nein Gelassenheit, Ja Panik! Wir fliehen in die große Stadt auf der Suche nach Lärm, Spaß, Rock’n’Roll und einer Warmwasserdusche. 83 Kilometer im Stück nehmen wir dafür in Kauf. Wir kehren der Holzfällerromantik den Rücken. Das klingt jetzt alles sehr drastisch, verifizieren lässt sich nur der Wunsch nach heißem Wasser. Ungeduscht treiben wir unsere Bromptons und uns selbst zu Höchstleistungen und nehmen die Direttissima-Verbindung. Wir nähern uns von Nord-Osten der Stadt, es folgt Waldfriedhof auf Waldfriedhof. Dann die Stadteinfahrt. Tallinn im Gegenlicht, davor das Meer erste Reihe fußfrei, eine Kaimauer und jetzt: eine Genuß-Tschick!
Abschließend noch eine kurze Spracheinführung: Guten Morgen heißt „Terre Hommikust“, Fluss „Jogi“, Weg heißt „Tee“, Hafen „Sadam“, Käsmu heißt nicht „Milchkuh“ und jetzt Hüvasti – „Baba“.

Nix gelbe Sau, nix Storch, nix Aufregung


5. Tag, Dienstag 20. September

Strecke: Rutja – Vainupea – Vihula – Altja – Vergi – Vösu – Käsmu – Vösu

Streckenlänge: 53 km Fahrzeit: 3 h 35 min

Wir verlassen unsere Waldheimat und tauchen ein in das Buchtenland des Lahemaa Nationalparks. Anfänglich lässt uns die „liebe Sonne“, die uns von Narva an begleitet hat, im Stich. Nix mehr „gelbe Sau“, wie ich sie in den heißen Sommermonaten noch verächtlich gerufen habe. Rechtzeitig zur 11er Jause scheint sie uns wieder gewogen. Wir bewegen uns auf grünen Abwegen. Links der Wald, mittig die Straße, rechts der Wald und ganz rechts außen das Meer. Die Legende erzählt, dass von hinter dem „Suurkivi“ (Großer Stein) in der Bucht von Altja die Babys herkommen. In meiner Kopf-Disco läuft ab sofort der alte Wilfried-Schlager „Mei Baby heißt Hannibal“ auf Dauerrotation. Auch die Landschaft verweigert jegliche Abwechslung und bleibt stur im Gleichklang. Vösu der Hauptort des Nationalparks ist ebenso schlaftrunken wie die Ortschaften davor. Ruhe bis zum Exzess. Die letzte Exkursion des Tages führt uns in das wunderbar klingende Nest Käsmu. Wir sind absolut überentspannt und begeben uns auf die Suche nach ein wenig Aufregung ins einzig ausschenkende Lokal in Vösu.

Überlandromantik, Meeresrauschen und die Tristesse der Kleinstädte


4. Tag, Montag 19. September

Strecke: Saka – Purtse – Aseri – Kunda – Rutja

Streckenlänge: 64 km Fahrzeit: 4 h 33 min

Nach zwei Tagen St. Petersburg wirkt so viel Stille fast gespenstisch. Hin und wieder meldet sich eine Möwe, ab und zu ein Schaf, im Hintergrund eine Prise Meeresrauschen, sonst nix. Der Radtag beginnt auf Schotter- und Steinstraßen, der Radweg ist perfekt ausgeschildert und himmelwärts fasziniert die Flugshow der Vögelwanderung Richtung Süden. Über Land ist alles sehr malerisch – viel Gegend – Felder, Mischwälder, kleine Gehöfte. In den Kleinstädten macht die Romantik Pause: Industrieruinen verrotten am Strand, heruntergekommene Schlafstädte im Plattenbaustil, keine Geschäfte, maximal ein Supermarkt. Ein alter Mann kauft sich billigen Fusel im großen Gebinde. Was hat die EU nach Estland gebracht außer Milka-Schokolade?
Die Holperwege münden in ein graues Asphaltband, schnurgerade, Richtung Kunda. Vor Elchen wird gewarnt, gesehen haben wir keinen. Der Gegenwind ist auch mit im Spiel, die ganze Zeit, ein Killer für die Lust am Rad. Auch Labestationen sind spärlich vorhanden, die Est_innen essen und trinken lieber zu Hause. Unsere heutige Bettenstation liegt mitten im Wald, ein Holzhaus im Nirgendwo. Wurst, Brot und Käse haben wir vorsorglich mitgebracht, auch einen Lustigmacher in der Flasche: Auf Estland!

Teller-Kappen, Flussgrenze und endlich Rad


3. Tag, Sonntag 18. September

Strecke: St. Petersburg (RUS) – Narva (EST) per Zug – 175 km, Fahrzeit 3 h 48 min

Strecke: Narva – Narva Jöesuu – Sillamäe – Toila – Valaste – Saka Streckenlänge: 76 km      Fahrzeit: 4 h 30 min

Alles wie im Kino: Bahnhof St. Petersburg 6.00 Uhr in der Früh. Der Zugbegleiter trägt eine übergroße Teller-Kappe am Kopf, ist sehr freundlich, aber lächeln hat er nicht im Programm. Die Pässe werden einkassiert, dafür gibt es Kaffee aus echten Tassen. Das Zugabteil lässt keine Wünsche offen, die Reisegeschwindigkeit sehr wohl. Die Narva trennt die EU von Russland bis hinein in den Finnischen Meerbusen (Ostsee), ab da verschwimmen die Grenzen. Der Grenzübertritt erfolgt über eine Eisenbahnbrücke. Das Wartehäuschen der Bahnhofstation Narva (EST) ist sowohl Pass- als auch Zollamt. Der eigentliche Aufenthaltsraum ist verwaist und erinnert an das „Salzamt“ (wienerisch für: behördliche Entscheidung ohne rechtliche Einspruchsmöglichkeit). Auf der anderen (russischen) Seite liegt Iwangorod, beide Städte haben ihre Festungen und sind durch die „Brücke der Freundschaft“ miteinander verbunden. Sehr viel Konstruktion, sehr viel Metall, sehr viel Zaun.

Ab jetzt wird endlich wieder bromptonisiert. Vom nordöstlichsten Zipfel der Festland-Festung Europa führt der Weg auf mäßig befahrenen Nebenstraßen bis zur Steilküste nach Saka. Rechte Seite Meer. Ein langer Tag, ein üppiges Abendessen inmitten von Stille.

Druschba! Zu Besuch bei Genosse Lenin


2. Tag, Samstag 17. September

Strecke: St. Petersburg

St. Petersburg im Schnelldurchlauf. Zu Fuß, den ganzen Tag, von Licht an, bis Licht aus. St. Petersburg ist aufgrund seiner Vielzahl an Prunkbauten UNESCO Weltkulturerbe und es bevölkern fast so viele japanische Tourist_innen wie Locals die Stadt. Der nur 74 km lange Fluss Neva durchquert die Stadt und verzettelt sich in mehreren Kanälen. Die Öffis präsentieren sich wildromantisch, die Metrostationen überdimensional, die Mobiltelefondichte ist bei weitem geringer als zu Hause und für ein Bahnticket (für die morgige Stadtflucht) muss der Reisepass vorgelegt werden. Fürs Rauchen am falschen Platz gibt es eine Ermahnung, dafür glauben die Russ_innen noch an die Ehe in Weiß, Samstag ist Hochzeitstag und die Arm-Reich-Schere sticht ins Auge. Am Nachmittag wird dem Genossen Lenin ein Besuch abgestattet. Den übrigen Touristen ist der ehemalige Revolutionär relativ wurscht, den Einheimischen ebenso. So steht der einstige Held an zwei dezentralen Nebenschauplätzen im Stadtbild herum und harrt der Dinge. Der aktuelle Held der Souvenierstände heißt Vladimir Putin: als Pilot, mit Panzer, mit Bär und immer stark.

1 1/2 Kilo Übergewicht, 5 Millionen Russ_innen und wo Lenin wohnt


1. Tag, Freitag 16. September

Strecke: Wien – St. Petersburg (Flug)

Streckenlänge: 1.575 km Flugzeit: 2 h 30 min

Die Tour entlang des Eisernen Vorhangs geht weiter. Ein wenig mehr als zwei Monate Wien am Stück, das reicht dann auch wieder. Das Reisefieber brennt. Diesmal ist auch meine Liebste mit an Bord. Die beiden „Bobo-Porsche“ (© Reinhold Schachner) sind geschmiert, aufpoliert und bondaged im Bauch des Flugzeugs. Im Vergleich zur letzten Tour hat das Reisegepäck eine Wampe (Bauch) bekommen. Um ganze eineinhalb Kilo zugelegt, das macht die Herbstpanier (wienerisch für wärmere Kleidung). Gelandet auf russischer Erde begrüßt uns nach Abhandeln aller Grenzformalitäten als erstes der Klassenfeind in Form von schlechtem Kaffee: Starbucks. Die ersten Eindrücke im Herzen der Stadt: Gefühlte fünf Millionen Russ_innen, gespürte Kältegrade, ein Geräuschpegel a la Motörhead (R.I.P), ein Mörder-Verkehr und viele Menschen auf der Suche nach ein paar „Kopeken“. Auf die Frage – „Wo Lenin wohnt“ (der zur Säule Erstarrte) – erkundigt sich die Rezeptionistin bei Google. Na dann gute Nacht!

Der Körper ist gelandet, der Geist ist noch unterwegs


29. Tag, Freitag 08. Juli

Tsarevo – Burgas -Sofia – Wien

 

Die Zusammenfassung

Start: Wien/Wasserwiese

Ziel: Tsarevo/Bulgarien/Schwarzes Meer

Länder: 11 bereiste Länder (Österreich, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Griechenland, Türkei).

Grenzübertritte: 24

Gefahrene Kilometer: 2.712 (bis Tsarevo)

Gefahrene Rad-Kilometer: 1.934 (bis Tsarevo)

Reisetage: 29

Bettenstationen: 27 verschiedene Betten (davon eines – in Tsarevo – doppelt belegt)

Der Körper ist gut in Wien angekommen, der Geist schwebt noch irgendwo zwischen Schwarzem Meer und Wasserwiese. Es ist an der Zeit mich vorerst von euch zu verabschieden, vielen Dank fürs Lesen, Liken, Begleiten und für euren Zuspruch. DANKE!

Ab Mitte September geht es wieder los. Ein weiterer Abschnitt des Eisernen Vorhangs wird abgeradelt. Auf dem Programm steht: St. Petersburg (RUS) – Riga (LV).

Alles Liebe & Dank
Mario

Nix radeln, nur faulenzen mit dem Blick aufs Schwarze Meer


28. Tag, Donnerstag 07. Juli

Tsarevo (Zarewo, BG) (Karte)

Gestern Abend. Beim Erfrischungsgetränk kommt die große Trauer. Sind es die L`amour-Hatscher die aus der Juke-Box der Hafenkneipe dröhnen oder ist es schlicht und einfach eine Entlastungsdepression?
Heute Morgen. Aufstehen, frühstücken, nix radeln. Ungewohnt. Tsarevo ist vom großen Tourismus (noch) verschont geblieben. Kleine unaufgeregte Hotels, kleiner Strand, kleine Fußgängerzone mit dem üblichen Tralala. „Gringo“, so scheint es, bin ich der einzige vor Ort. Ein bisschen die Beine lang machen, mit Blick aufs Schwarze Meer. Die Füße hab ich gestern schon reingestreckt, das reicht. Die letzten Aufgaben: Das Brompton flugfertig machen und hoffen, dass der Fahrer morgen früh meinen Flughafentransfer nicht verschläft. Morgen folgt ein Blogeintrag mit Statistik.

In der Schmuddelstraße, alles wieder anders, das Schwarze Meer


26. Tag, Mittwoch 06. Juli

Strecke: Kirklareli (TR) – Tsarevo (BG)

Streckenlänge: 105 km      Fahrzeit: 6 h 50 min

Gestern Abend war ich noch auf einen Sprung in der Schmuddelstraße. Eine enge Seitengasse, wo Bier ausgeschenkt und auf Pferde gewettet wird. Männer only! Kirklareli hat sich gelohnt, eine lebendige Kleinstadt fern ab vom Tourismus nahe der bulgarischen Grenze.
Der Reise-Plan war, mich in gemäßigten Schritten dem Ziel anzunähern. Es ist anders gekommen. Flüge in die Heimat unter fünf Stunden waren nur noch am Freitag verfügbar. So mussten heute die ganzen, fehlenden, 105 km auf einmal bewältigt werden. Und nach dem Frühstück waren sie wieder da, die Berge, gleich hinter Kirklareli haben sie sich aufgebaut. Mächtig.
Von Kirklareli bis Tsarevo war es eigentlich nur eine einzige Straße die zu bezwingen war. Anfangs guter Asphalt und immer bergauf (insgesamt waren es über 1.000 Höhenmeter), nach dem Grenzübertritt nach Bulgarien gings bergab. Auch mit der Straßenqualität. Der Genuss der Abfahrten wurde durch einen unpackbaren Schlagloch-Slalom gedämpft. Weiters, vom Start bis zum Ziel keine Dörfer, nur auf Abwegen. Keine außergewöhnlichen Flüssigkeiten, bis auf die rettenden Trinkbrunnen. Ehrlichkeitshalber muss ich sagen, einer „kurzen“ Mitfahrgelegenheit hab ich nicht widerstehen können. Die einzigen lebendigen Kontakte außer Grenzkontrolle und der erwähnten Mitfahrgelegenheit war eine Ziegen-Herde im Wald. Aber dann: Das Ziel. Das Schwarze Meer. Ich gehe noch immer auf Wolken. Unbeschreiblich! Ein zarter Rausch.
Ich verabschiede mich jetzt, hab noch zu feiern. Das erste Zielfoto schon heute, das offizielle mit Rad und Radler folgt morgen.

Der Muezzin ruft, Gegenwind und was endlich einmal gesagt werden muss


25. Tag, Dienstag 05. Juli

Strecke: Edirne – Inece – Kirklareli (Karte)

Streckenlänge: 67 km      Fahrzeit: 4 h 33 min

Schwer überfordert! So viele Kulturen in so kurzer Zeit. Gestern beim Abendessen (Hühnerleber, eine Spezialität) hat mich der Muezzin erschreckt. Punkt 21 Uhr. Sehr laut! Viele Gastarbeiter sind zur Zeit auf Heimaturlaub. Am Nachbartisch, die Jugend unterhält sich auf Deutsch, die Eltern sprechen mit der Verwandtschaft Türkisch. Auch mein gestriger Friseur arbeitet in Deutschland, macht gerade Urlaub bei seiner Familie und hilft im Laden eines Freundes aus. Sozusagen eine Haar- und Bartkorrektur im Pfusch.
Heute sollte es eine Spazierfahrt werden. Fast. Das Herausfinden aus der Stadt war eine Aufgabe für Fortgeschrittene. Die Straße immer leicht hügelig, der Belag bekömmlich, meine Freund_innen die Wolken haben die gelbe Sau perfekt abgedeckt, aber der Gegenwind! Gute 60 Kilometer Gegenwind. Er hat die vermeintliche Spazierfahrt zur Tortur werden lassen. Durchschnittsgeschwindigkeit unter 15 km/h. Der schlechteste Wert seit Beginn der Reise! Wurscht, ich bin gut angekommen.
Und was ich schon lange berichten wollte. Ein Hoch auf die Mini-Märkte! ABC-Markt, Magazin Mixt, Mini-Market, … oder wie auch immer. Fast jedes Dorf besitzt so einen Mikro-Laden, wo es von Wasser und Brot bis zum Waschmittel die wichtigsten Gegenstände des täglichen Lebens zu erwerben gibt. Ab dem Grenzübergang Berg (A/SK) ist das ganz selbstverständlich. Solche Greißler, die aus dem heimischen Alltag komplett verschwunden sind, sind für die/den Reisende(n) von unschätzbarer Bedeutung. Diese Läden sind multifunktional ausgestattet und in manchen Dörfern der einzige Treffpunkt. Praktisch Wirtshaus, Trafik, Lebensmittelmarkt und Sozialamt in einem. Tagtägliche Lebenshilfe, also wirkliche Super-Märkte!
Zurück ins Heute, auch wenn die türkischen Mini-Märkte für meine Bedürfnisse nicht ausreichend sortiert sind – trotzdem großartig! Wunderbarer Cay und möglicherweise ganz tolle Geschichten, nur verstanden hab ich sie nicht.