Lebensbeichte, Unwetter und kein Fischbrötchen mehr


17. Tag: Donnerstag, 29. Juni

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Strecke: Dierhagen – Ostseebad Warnemünde – Ostseebad Kühlungsborn – Wismar

Streckenlänge: 91 km

Über die Nacht kam der Regen, früh morgens hängt noch eine dicke Wolkenschicht über dem Dünencamp. Camper sind eine eigene Spezies, manche bringen sogar ihre eigenen Blumenvorgärten mit, gießen müssen sie heute nicht.
Um es gleich vorwegzunehmen, das heutige Tagesziel wird trotz widriger Umstände erreicht. Unter einem Himmel voller Wolken geht es immer dicht am Wasser entlang. Unterwegs reiße ich einen neuen Begleiter auf, Frank aus Hessen. Frank ist seit sieben Jahren trocken, das Radfahren hat ihm geholfen von der Droge Alkohol wegzukommen. Seit drei Wochen ist er bereits unterwegs, mit offenem Zeitbudget. Eineinhalb Stunden treten wir gemeinsam durch den Wald, in Warnemünde, eine Lebensgeschichte weiter, trennen sich unsere Wege. Der Himmel grollt bedrohlich. Zwischen Warmemünde und dem Ostseebad Kühlungsborn stehen die letzten zwei noch erhalten gebliebenen DDR-Grenzwachtürme. Dann platzt der Himmel, es schüttet wie aus Kübeln. „Molli“ die Bäderbahn bringt mich nicht ins Trockene, aber Richtung Etappenziel. Einmal umsteigen und Wismar heißt der heutige Hafen. Ein paar Knöpfe gedrückt und ein Zimmer ist gebucht, wie war das früher? Nur gegen das viele Wasser von oben, da geht auch die neue Technologie baden. Es schüttet noch immer, das Fischerboot „Emma“ schaukelt aufgeregt im Hafenbecken. Ein Fischbrötchen wäre jetzt noch ein Hit, aber alle Rollbalken sind schon gefallen. Wismar schläft bereits und das kurz nach acht.

Zug statt Kopfsteinpflaster, Freund Ernst und die schönste Form von deutsch-deutscher Wiedervereinigung


16. Tag: Mittwoch, 28. Juni

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Strecke: Greifswald – Stralsund – Barth – Ostseeheilbad Zingst – Ostseebad Prerow – Dierhagen

Streckenlänge: 134 km

Das historische Kopfsteinpflaster auf der Strecke Greifswald – Stralsund spar ich mir. Diese Strecke hatte ich schon mal, brauch ich nicht mehr, ich nehme lieber den Zug. In der Hansestadt Strahlsund dominiert der Backstein, am Hafen die Fischbrötchen. Beim Verlassen der Stadt treffe ich meinen Freund Ernst, Ernst Thälmann. Versteinert blickt er von der Strandpromenade aus Richtung Meer. Auch heute wieder eine ruhige Strecke, kleine Dörfer, Bungalows mit perfekt gestutztem Rasen, Koppeln mit Pferden, Rindviecher grasen und alles mögliche Geflügel. Unterwegs zähle ich zum Zeitvertreib die Radler_innen „mit“ und „ohne“. Meine nicht repräsentative Statistik geht mit 41:40 an die „Eierschädl“ (liebevoll für Helmträger_innen). In Barth treffe ich auf Jutta und Harald, unsere Blicke haben sich schon am Bahnhof von Greifswald gestreift. Beide ohne Eierschädl dafür mit Cowboyhut. Jutta aus Göttingen, Harald aus Dresden, jahrelang getrennt durch den Eisernen Vorhang. Nach der Öffnung haben sie sich kennengelernt, heute sind sie seit sieben Jahren ein Paar. Die schönste Form von deutsch-deutscher Wiedervereinigung! Geschichten werden ausgetauscht, Erfrischungsgetränke getrunken, die Zeit übersehen. Schön war’s, aber jetzt kommt mein Zeitplan doch noch ins Wanken. Die Halbinsel Darß wartet noch, Seebäder, Moorwälder, Fischland. Mein Zelt steht heute nahe der Dünen in Dierhagen.

Geschundene Waldwege, ein weiterer Länderwechsel und der „Geschmack der Gerechten“


14. Tag: Montag, 26. Juni

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Strecke: Dziwnów – Międzyzdroje – Świnoujście (PL) – Seeheilbad Ahlbeck (D) – Ostseebad Karlshagen

Streckenlänge: 92 km

So richtig warm ist es in den letzten Tagen nur im Schlafsack. Achtzigerjahre-Klänge aus der Disco nebenan dröhnen mich in den Schlaf.
Der Tag beginnt auf Wegen weg vom Wasser durch das Land, durch Kastanienalleen, vorbei an Feldern durch kleine Dörfer. Ein Loblied auf den „Sklep“, jede kleinere Ortschaft hat einen, diese Mini-Märkte bieten alles, vom Klopapier bis zur Wurstsemmel. Die letzten polnischen Kilometer haben noch einige Überraschungen auf Lager, vom Regen geschundene Radwege, sowie nicht ganz eindeutige Angaben in meinem Radbuchbegleiter verleiten mich beinahe zu einer ausufernden Extratour. Das Wetter hat sich positiv eingerenkt und die Grenzstadt Świnoujście ist in Reichweite. Die polnische Etappe hat uns beide, mein Brompton und mich, teilweise an unsere Grenzen gebracht – Wetterverirrungen, Sandpisten, fehlende Zeit – trotzdem will ich keinen Kilometer missen. Seitenwechsel. Über der Grenze dasselbe Bild, auch in den deutschen Seebädern steppt der Bär. Die Hotels und Villen heißen Kaiser Wilhelm oder Germania, davor wird Störtebecker-Bier – „der Geschmack der Gerechten“ – ausgeschenkt. Der Kapitalismus hat keinen Genierer! Nach den ersten drei großen Seebädern führt ein Waldweg hinaus aus dem Wahnsinn, sehr romantisch wenngleich weniger abenteuerlich als auf polnischer Seite, ich weiß es zu genießen. Der heutige Campingplatz ist eine penibel durchorganisierte Kleinstadt deutscher Gründlichkeit – schlafen werd ich trotzdem gut.

Ein Meer aus Sand, schieben statt rollen und das nächste Jahrmarktsdorf


11. Tag: Freitag, 23. Juni

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Strecke: Łeba – Izbica – Kluki – Smołdzino – Rowy

Streckenlänge: 74 km

Spätabends, wie auf Knopfdruck sind alle Menschen verschwunden und alle Läden dicht. Auch die Köch_innen machen Feierabend. Mit Mühe bekomme ich eine Pizza. In der Nacht kommt er dann doch noch, der Regen. Da lieg ich aber schon fest eingepackt in meinem Schlafsack, sehr romantisch.
Der frühe Vogel fängt den Wurm, so mache ich mich schon sehr zeitig auf den Weg zu den Wanderdünen von Łeba, ein Extra-Ausflug von tour-retour 20 Kilometern. Die Nationalpark-Kasse hat noch geschlossen und ich wandere alleine durch ein Meer aus Sand, am Rückweg trudeln die ersten Besucher_innen ein. Weiter die eigentliche Route: Durch den Wald, durch Wiesen und Felder, durch vergessene Dörfer. Die Untergründe werden immer ausgefallener. Auf Sandwege folgen Betonplattenwege und diese enden auf Pfaden durch Sumpfwiesen. Es wird oft geschoben. Ab dem Freilicht-Museums-Ökodorf Kluki kündigt sich wieder eine Kurzstrecke Asphalt an. Der Segen hält nur kurz, es folgen Betonplatten- und Sandwege bis zu meiner heutigen Bettenstation, einem dubiosen Campingplatz in Rowy, einem weiteren Jahrmarktsdorf mit Meerzugang. Zusätzlich hab ich noch eine unfreiwillige Ehrenrunde eingebaut – schon wieder verfahren! Die Hafenkneipe versöhnt mich mit dem Tag, bis der große Wolkenbruch kommt. Gut eingeweicht versenke ich mich in meinem Schlafsack, um von Sand- und Betonplattenwegen zu träumen.
Zum Schluss noch eine Beobachtung: Polnische Radler_innen besprayen neben ihren Körpern auch ihre Räder mit Gelsen-Abwehr.

Landschaftlicher Stillstand, Zahlenspiele und ein Häuschen am Wasser


11. Tag, Montag 26. September

Strecke: Haapsalu – Kabeli – Kirbla – Lihula – Tuudi – Karuse – Paatsalu (Karte)

Streckenlänge: 75 km Fahrzeit: 5 h

Haapsalu im morgendlichen Nebel. Kinder auf dem Schulweg, einige Fischer versuchen ihr Glück auf der Strandpromenade, der Blick in die Ferne ist verschleiert.
Zur heutigen Etappe: „Same procedure as every day“ (aus „Dinner for one“). Und da waren sie wieder, die drei „W“ – Wald, Wiese, Wind. Letzterer verhielt sich heute neutral. Wenn sich über Kilometer so gar nichts tut, geht uns das Radeln, vulgär ausgedrückt, schon ziemlich auf die Eier (diesmal wird nicht gegendert). Bei landschaftlichem Stillstand vertreiben wir uns die Zeit mit Zahlenspielen: Auf vier Häuser kommt eine Busstation, aber nur jede zweite hat ein Sitzbankerl. Für einen Mini-Markt bedarf es so um die hundert Wohneinheiten. Jede sechste Hütte hat einen Hund hinter dem Zaun. Die Holz- überwiegt gegenüber der Plattenbauweise. Und auf dem Asphaltband wird gewarnt vor „Elchen“, „Hirschen“, „über die Straße laufenden Kindern“ und „alten Menschen“.
Inzwischen sind wir beim vierten „W“ gelandet, am Wasser. Keine Menschen außer uns, nur Schilf, Libellen, Windräder und ein Fischerboot. Zeit für eine Jause.