Eine Notlüge, ein Reiseradler in der ersten Klasse und ein Wiedersehens-Abschieds-Fest


28. Tag: Sonntag, 15. Juli

Strecke: St. Petersburg – Wien (Flug)

Ich geb’s ja zu, das mit «um meinen Rückflug kümmern» war ein bisserl geschwindelt. Geschwindelt, weil ich meine Liebste überraschen will. Na, also!
Die letzten 24 Stunden waren die anstrengendsten der ganzen Reise. Fragen und Ängste türmen sich. Wie bring ich das Rad am besten in den Flugvogel? Wie komm ich mit dem ganzen Klumpert am Flughafen? Öffentlich? Öffentlich! Spektakuläre Fahrt mit Übergepäck vom Hotel zur Metro. Die Metro sperrt um 5.45 Uhr auf. Ein Ticket bis Moskovskaya, von dort geht der Bus zum Flughafen. Den ersten Bus sehe ich nur mehr von hinten. Der Mini-Bus geht sich gerade noch aus, beim Einstieg das befürchtete Chaos mit Faltrad plus zwei Riesen-Gepäcksstücken. Die Menschen rundherum berührt das nicht. Am Flughafen angekommen wird das Rad, Haus, Küche, … so verpackt, dass es Chancen auf eine Mitfluggenehmigung gibt. Alle Hürden werden überraschend viel einfacher überwunden als erwartet … Warum also diese blöde schlaflose Nacht?!
Am Flughafen regiert wieder der strenge Blick, Anlehnen geht nicht, gerade Stehen, genaue Musterung, nicht einmal ein Lächeln. «Do svidaniya!» Aber, das Beste kommt zum Schluss! Ich weiß nicht wem ich es zu verdanken habe, auf meinem Ticket steht Reihe 1, Sitz A. Denk mir noch, «Wahnsinn, keine Klassenunterschiede»! Sehr wohl, ich sitze, warum auch immer in der Ersten-Klasse, kaue Omlet und und erfrische mich «semi-dry» mit Weißwein. «Wahnsinn, ein Reiseradler in der ersten Klasse!» Genuss und Glück wohnen eng nebeneinander, trotzdem die Forderung: «Omlet und Semi-dry für Alle!»
Wieder in Wien gibt es am Abend die finale Party. Mit der Liebsten und der lieben Olga aus Australien. Zum zweiten Mal am Tag am Flughafen, Olga tritt nach ihrer erfolgreichen Großglockner-Besteigung – «Gratulation!» – die Heimreise an. Ein Wiedersehens-Verabschiedungs-Fest, es wird ordentlich erfrischt, daneben rollt die runde Kugel, jetzt ist auch dieser Zirkus Geschichte!

ps: Morgen gibt es noch eine kurze Zusammenfassung!

Klassenfeinde, Schaffnerinnen und die russische Müllwirtschaft


27. Tag: Samstag, 14. Juli

Strecke: Repino – St. Petersburg (Karte)

Streckenlänge: 48 km (gesamt 2.401 km)

Der Zieleinlauf zwischen Stoßverkehr und unterbrochenen Radwegen. Kein Finale für Lyriker, ein Endstück für Trivial-Pragmatiker! In den Ballungszentren ist Russland voll in amerikanischer Hand. Von jeder Fassade lacht in grellen Farben und großen Lettern der Klassenfeind! Unterwegs begegnet mir wieder mein alter Freund. Schlecht schaut er aus, als ob er fragen wollte: «Und, wie geht’s der Revolution?!» Die Antwort: «Das Smartphone regiert das Proletariat, Putin und Trump geben die bösen Clowns und McDonalds beherrscht den Geschmack der Massen», denk ich mir lieber. Ich halte mich kurz: «Passt eh, die rote Fahne weht noch!»
In die Stadt geht es immer an der Newa entlang, bis zum Finnischen Bahnhof am Lenin-Platz. Ende der Reise! Der «Iron Curtain Trail» ist abgeradelt, über 10.000 Kilometer, von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer. Ein Stein fällt vom Herzen, aber das große Glück lässt noch auf sich warten. Dann eben das Ziel-Foto!
Es bleibt nicht viel Zeit zum Feiern, einmal noch vor Ort WM-Luft schnuppern. Mit der Tram 48 zum Stadion. Jede Straßenbahn hat eine eigene Schaffnerin – großartige Frauen! – verkaufen Tickets, geben Auskünfte und haben immer ein Lächeln auf den Lippen. Die Partie ist schon im Gange, rund ums Stadion regiert die Gelassenheit, die Farben sich mehrheitlich nicht die der spielenden Parteien, sondern hauptsächlich die russische Tricolore «Weiss-Blau-Rot». Das russische Herz schlägt für Belgien. Trotzdem wird der Erfolg gelassen hingenommen, die Uhren laufen einfach weiter. Auffallend, die Straßen rund ums Stadion sind picobello sauber, kein einziges Papierl, kein einziger Tschickstummel, einfach Null Müll im Gegensatz zu den verdreckten Stränden am Weg. So viel Sauberkeit verwirrt. Werde mich bei einem Erfrischungsgetränk, einer Solynaka und einem Shashlik eingehend mit der russischen Abfallwirtschaft beschäftigen! Aber, eigentlich sollte ich mich um meinen Rückflug kümmern …

Wohlfühlfaktor unter Null, ein Bier hinter Gittern und Lenin verfolgt mich


26. Tag: Freitag, 13. Juli

Strecke: Wyborg – Sowjetski – Selenogorsk – Repino (Karte)

Streckenlänge: 123 km (gesamt 2.353 km)

Seit langer Zeit wieder einmal ein Stück Fleisch zwischen den Zähnen, ein Gedicht!
Heute noch einmal eine Langstrecke über 100 Kilometer, die letzte. Eine Nebenroute führt über Sowjetski und Selenogorsk Richtung St. Petersburg. Der Straßenbelag, von passabel bis kriminell. Das Verkehrsaufkommen, gemäßigt bis ausufernd. Die Disziplin der Mitbenutzer, sehr bescheiden. Ein erzwungener Ausritt in die Wiese ist unvermeidlich. In der Ortschaft Sowjetski scheint die Zeit vor 50 Jahren stehen geblieben zu sein: Ein Supermarkt, blasse Wohncontainer, Straßenverkäuferinnen mit Eiern und Gartenprodukten im Angebot, Kinder kehren den Platz vor einem Kriegerdenkmal, … Ein Wohlfühlfaktor unter Null. Die Bilder vom aufpolierten WM-Austragungsland und die Realität daneben wollen nicht zusammenpassen. In solchen Momenten zieht die Demut ein, über das Glück in Wien das Licht der Welt erblickt zu haben.
Nach einer langen Durststrecke wird die erstbeste Gelegenheit auf eine Erfrischung wahrgenommen, ein Resort im Nirgendwo. Verschlossene Türen. Läuten beim Kommen – Tor auf – sowie läuten beim Gehen um wieder rauszukommen. Ein teures Bier hinter Gittern!
Große Erschöpfung macht sich breit, es ist nicht nur der Körper der schwächelt, es ist vor allem der Kopf der hinterherhinkt das Erlebte zu verarbeiten. In Selenogorsk läuft mir wieder Genosse Lenin über den Weg, der Typ verfolgt mich, gestern, heute und vermutlich wird er mich auch morgen aufsuchen. Politische Diskussionen über Sozialismus und Co lassen wir aus, zu untrüglich ist die Realität. Ab Serowo führt ein Radweg direkt die Ostsee-Küste entlang und im Kurort Repino ist endgültig Schluss. Das Abendprogramm wird begleitet von Kinderanimation im Park, echt süß und das ist ausnahmsweise ehrlich gemeint. Morgen wartet St. Petersburg.

Finnland Baba, lachende Grenzbeamtinnen und auf Besuch beim «Glatzerten»


25. Tag: Donnerstag, 12. Juli

Strecke: Vaalimaa – Wyborg (Karte)

Streckenlänge: 66 km (gesamt 2.230 km)

Eine angebotene Frei-Übernachtung mit Waschmöglichkeit und Familienanschluss mit großer Mühe (Notlügen, …) abgelehnt! Fast vier Wochen auf einer aufblasbaren Matratze zeigen Wirkung: «Mir geht es wie dem Jesus, mir tut das Kreuz so weh!»
Finnland Baba! Die Grenze in Greifweite: Grenzübertritt. Strenge Fragen. Noch strengere Blicke. Diesmal alles anders: «With bicycle?» Das Rad wird bestaunt. Daumen hoch! Kopfschütteln. Anerkennendes Kopfnicken. Herzliches Lachen. Mitleidige Blicke. Unverständnis. Daumen hoch! Ein aufmunterndes Lächeln … Die Schlange der Übertrittswilligen wächst, die Beamtinnen lassen sich nicht irritieren – es folgt ein (frei übersetztes) Hoppauf!
Die Strecke nach Wyborg verweigert jegliche Romantik: Stark befahrene Straße – Bäume, Asphalt, Bäume (hatten wir schon). Ab und zu eine «Babuschka» mit einem Küberl frischer Heidelbeeren am Straßenrand. Die Querstraßen zu eventuellen Ortschaften sind ein einziges Schlagloch. Irgendwann kommt dann doch die Wyborger Burg in Sichtweite. Die Hotelsuche gestaltet sich schwierig, diese seltsamen unleserlichen Schriftzeichen. Gefühlt halb Wyborg sucht mit mir, am Ende steht ein (gemeinsamer) Erfolg. Abgesehen von den hilfsbereiten Menschen ist die ehemals schwedische, dann finnische, jetzt russische Stadt eine Tragödie. Schwer ramponiert, bröckelt es vor sich hin und präsentiert sich als einzige Baustelle. Es sind die Menschen, die die Stadt großmachen. Im Gegensatz zu Finnland wird sofort Kontakt aufgenommen, Freigetränk inklusive. Ein Einstandsbesuch beim «Glatzerten» (für Wladimir Iljitsch Uljanow, kurz Lenin, © Max Wachter) am Roten Platz. «Druschba, Genosse!»
Und eigentlich wäre heute ein schönes, fettes Stück Fleisch angesagt, aber in die Lokale die das «fette Fleisch» anbieten mag ich nicht und andere gibt es nicht! Die «Schere» zwischen viel Geld und wenig Geld sticht sofort ins Auge. Die «Hackler» trinken/essen nicht im Wirtshaus, die müssen zu Hause essen und trinken …
Doch noch ein erdiges Lokal gefunden. Speisekarte lesen? Unmöglich! Der Koch bekommt alle Freiheiten, schau ma mal was er bringt …

Teller-Kappen, Flussgrenze und endlich Rad


3. Tag, Sonntag 18. September

Strecke: St. Petersburg (RUS) – Narva (EST) per Zug – 175 km, Fahrzeit 3 h 48 min

Strecke: Narva – Narva Jöesuu – Sillamäe – Toila – Valaste – Saka Streckenlänge: 76 km      Fahrzeit: 4 h 30 min

Alles wie im Kino: Bahnhof St. Petersburg 6.00 Uhr in der Früh. Der Zugbegleiter trägt eine übergroße Teller-Kappe am Kopf, ist sehr freundlich, aber lächeln hat er nicht im Programm. Die Pässe werden einkassiert, dafür gibt es Kaffee aus echten Tassen. Das Zugabteil lässt keine Wünsche offen, die Reisegeschwindigkeit sehr wohl. Die Narva trennt die EU von Russland bis hinein in den Finnischen Meerbusen (Ostsee), ab da verschwimmen die Grenzen. Der Grenzübertritt erfolgt über eine Eisenbahnbrücke. Das Wartehäuschen der Bahnhofstation Narva (EST) ist sowohl Pass- als auch Zollamt. Der eigentliche Aufenthaltsraum ist verwaist und erinnert an das „Salzamt“ (wienerisch für: behördliche Entscheidung ohne rechtliche Einspruchsmöglichkeit). Auf der anderen (russischen) Seite liegt Iwangorod, beide Städte haben ihre Festungen und sind durch die „Brücke der Freundschaft“ miteinander verbunden. Sehr viel Konstruktion, sehr viel Metall, sehr viel Zaun.

Ab jetzt wird endlich wieder bromptonisiert. Vom nordöstlichsten Zipfel der Festland-Festung Europa führt der Weg auf mäßig befahrenen Nebenstraßen bis zur Steilküste nach Saka. Rechte Seite Meer. Ein langer Tag, ein üppiges Abendessen inmitten von Stille.

Druschba! Zu Besuch bei Genosse Lenin


2. Tag, Samstag 17. September

Strecke: St. Petersburg

St. Petersburg im Schnelldurchlauf. Zu Fuß, den ganzen Tag, von Licht an, bis Licht aus. St. Petersburg ist aufgrund seiner Vielzahl an Prunkbauten UNESCO Weltkulturerbe und es bevölkern fast so viele japanische Tourist_innen wie Locals die Stadt. Der nur 74 km lange Fluss Neva durchquert die Stadt und verzettelt sich in mehreren Kanälen. Die Öffis präsentieren sich wildromantisch, die Metrostationen überdimensional, die Mobiltelefondichte ist bei weitem geringer als zu Hause und für ein Bahnticket (für die morgige Stadtflucht) muss der Reisepass vorgelegt werden. Fürs Rauchen am falschen Platz gibt es eine Ermahnung, dafür glauben die Russ_innen noch an die Ehe in Weiß, Samstag ist Hochzeitstag und die Arm-Reich-Schere sticht ins Auge. Am Nachmittag wird dem Genossen Lenin ein Besuch abgestattet. Den übrigen Touristen ist der ehemalige Revolutionär relativ wurscht, den Einheimischen ebenso. So steht der einstige Held an zwei dezentralen Nebenschauplätzen im Stadtbild herum und harrt der Dinge. Der aktuelle Held der Souvenierstände heißt Vladimir Putin: als Pilot, mit Panzer, mit Bär und immer stark.

1 1/2 Kilo Übergewicht, 5 Millionen Russ_innen und wo Lenin wohnt


1. Tag, Freitag 16. September

Strecke: Wien – St. Petersburg (Flug)

Streckenlänge: 1.575 km Flugzeit: 2 h 30 min

Die Tour entlang des Eisernen Vorhangs geht weiter. Ein wenig mehr als zwei Monate Wien am Stück, das reicht dann auch wieder. Das Reisefieber brennt. Diesmal ist auch meine Liebste mit an Bord. Die beiden „Bobo-Porsche“ (© Reinhold Schachner) sind geschmiert, aufpoliert und bondaged im Bauch des Flugzeugs. Im Vergleich zur letzten Tour hat das Reisegepäck eine Wampe (Bauch) bekommen. Um ganze eineinhalb Kilo zugelegt, das macht die Herbstpanier (wienerisch für wärmere Kleidung). Gelandet auf russischer Erde begrüßt uns nach Abhandeln aller Grenzformalitäten als erstes der Klassenfeind in Form von schlechtem Kaffee: Starbucks. Die ersten Eindrücke im Herzen der Stadt: Gefühlte fünf Millionen Russ_innen, gespürte Kältegrade, ein Geräuschpegel a la Motörhead (R.I.P), ein Mörder-Verkehr und viele Menschen auf der Suche nach ein paar „Kopeken“. Auf die Frage – „Wo Lenin wohnt“ (der zur Säule Erstarrte) – erkundigt sich die Rezeptionistin bei Google. Na dann gute Nacht!