Luxusprobleme, Dauerregen und pure Wut


12. Tag: Samstag, 24. Juni

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Strecke: Rowy – Ustka – Darłówko – Dabki – Dabkowice – Łazy

Streckenlänge: 95 km

Trotz mentaler Bestform geht mir gerade alles, um es kindergerecht zu formulieren, auf den Geist: die Kirtagsdörfer mit Strandzugang, das ganze Souvenirgerümpel, kein Internetz, die zu befahrenden Untergründe, die Radwegbeschriftungen, das Wetter, … Alles Luxusprobleme. Trotzdem! Heute ist kein Tag für Fahrrad-Romantik, heute wird nur auf die Kilometerleistung geachtet. Keine Radwege, Bundesstraße! Überlandregen in allen Abstufungen, um die Mittagszeit in Darłówko bin ich nass bis auf die Knochen. In der Mittagspause setzt der Regen aus, um sich rechtzeitig zur Abfahrt wieder wichtig zu machen. In Dabki tobt wieder der Zirkus. Rege Bautätigkeit. Der letzte Ost-Charme wird beseitigt um eine Vergnügungs-Wunderwelt mit Meerblick aus der Erde zu stampfen. Radfahrtechnisch läuft alles rund, die letzten Kilometer reine Formsache. Nur, die Realität hat immer Überraschungen auf Lager. Die vermeintliche Spazierfahrt zur heutigen Liegestadt wird zum Härtetest. Ein reiner Sandweg über fünf Kilometer. Rad schieben ist schlimm, Rad samt Gepäck tragen ist die Hölle. Beim Schieben kommen sich mitunter auch die Pedale mit den Beinen in die Quere. Die darauffolgenden Schreie haben mit Schmerz nichts zu tun, purer Zorn! Mein „Bobo-Porsche“ (© Reinhold Schachner) weiß mit fast allen Bodenbeschaffenheiten umzugehen, nicht mit Sand! Apropos Brompton, mein Zweirad löst die unterschiedlichsten Reaktionen aus, von ungläubigem Kopfschütteln bis Daumen hoch. Manche halten es im gefalteten Zustand für einen Rollstuhl, andere Fragen „Und wo ist der Motor?“, und die beste Meldung bis dato – „Where you do want to go with this?!“. Schau ma mal, was der morgige Tag zu bieten hat …

Ein Meer aus Sand, schieben statt rollen und das nächste Jahrmarktsdorf


11. Tag: Freitag, 23. Juni

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Strecke: Łeba – Izbica – Kluki – Smołdzino – Rowy

Streckenlänge: 74 km

Spätabends, wie auf Knopfdruck sind alle Menschen verschwunden und alle Läden dicht. Auch die Köch_innen machen Feierabend. Mit Mühe bekomme ich eine Pizza. In der Nacht kommt er dann doch noch, der Regen. Da lieg ich aber schon fest eingepackt in meinem Schlafsack, sehr romantisch.
Der frühe Vogel fängt den Wurm, so mache ich mich schon sehr zeitig auf den Weg zu den Wanderdünen von Łeba, ein Extra-Ausflug von tour-retour 20 Kilometern. Die Nationalpark-Kasse hat noch geschlossen und ich wandere alleine durch ein Meer aus Sand, am Rückweg trudeln die ersten Besucher_innen ein. Weiter die eigentliche Route: Durch den Wald, durch Wiesen und Felder, durch vergessene Dörfer. Die Untergründe werden immer ausgefallener. Auf Sandwege folgen Betonplattenwege und diese enden auf Pfaden durch Sumpfwiesen. Es wird oft geschoben. Ab dem Freilicht-Museums-Ökodorf Kluki kündigt sich wieder eine Kurzstrecke Asphalt an. Der Segen hält nur kurz, es folgen Betonplatten- und Sandwege bis zu meiner heutigen Bettenstation, einem dubiosen Campingplatz in Rowy, einem weiteren Jahrmarktsdorf mit Meerzugang. Zusätzlich hab ich noch eine unfreiwillige Ehrenrunde eingebaut – schon wieder verfahren! Die Hafenkneipe versöhnt mich mit dem Tag, bis der große Wolkenbruch kommt. Gut eingeweicht versenke ich mich in meinem Schlafsack, um von Sand- und Betonplattenwegen zu träumen.
Zum Schluss noch eine Beobachtung: Polnische Radler_innen besprayen neben ihren Körpern auch ihre Räder mit Gelsen-Abwehr.

Ein Schiff wird kommen, Trubel bis Einsamkeit und eine Routenänderung


 

10. Tag: Donnerstag, 22. Juni

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Strecke: Gdynia – Hel – Chałupy – Debki – Sasino – Łeba

Streckenlänge: 110 km

Hab’s von meinem „Blues Room“ gerade noch runter ins „Blues Pub“ geschafft. Kein Stadtrundgang, keine frischen Fotos, keine Strandpromenade, stattdessen Jam-Session, Burger und Bier. Trotzdem bin ich noch weit früher als die Sonne schlafen gegangen, wieder aufgestanden bin ich vor ihr.
„Ein Schiff wird kommen“, davon wusste schon Lale Andersen ein Lied zu singen, meines kam erst um Zehn. Wertvolle Radstunden werden mit warten verplempert. Eine Gruppe Teenager feiert während der Überfahrt nach Hel ausgelassen das Leben.
Es warten über 100 Kilometer und nicht immer hält die bevor liegende Strecke das, was die Radkarte mir glauben macht. Hel ist der touristische Kopf einer 34 Kilometer langen Landzunge zwischen Ostsee und Putziger Wiek, eine einzige Tourismus-Meile. Zwischen den Hotspots verläuft der Radweg durch den Wald oder entlang des Putzieker Wiek. Abseits der Strecke immer wieder Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg, Bunkeranlagen mitten im Wald. Die heutige Strecke hat es in sich, Kalt-Warm auf allen Wegen: Auf hohes Verkehrsaufkommen und Menschenmassen folgt die Einsamkeit. Auch die zu befahrenden Untergründe spielen alle Stücke, von Asphalt, Wald-, Schotter-, Kopfsteinpflaster- bis zu Sand-Wegen alles im Programm. Dem nicht genug, nehme ich auch noch eine ungewollte Routenänderung vor. Verfahren! Das Hoppala endet im Sand, Schrittgeschwindigkeit und teilweises Schieben. Kurz vor Sonnenuntergang roll ich dann doch noch in Łeba ein. Ein harter Arbeitstag und übrigens, angesagte Unwetter finden nicht statt, Sonne und harmlose Wolken, kein Regen.

Kalte Dusche, Solidarność und in Gdynia hängen geblieben


9. Tag: Mittwoch, 21. Juni

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Strecke: Jantar – Danzig – Sopot – Gdynia

Streckenlänge: 57 km

Warmes Wasser gibt es erst ab acht Uhr, so muss der Körper mit kaltem Wasser gesäubert werden. Dafür freu ich mich auf warmen Kaffee zur ersten Pause.
Die Weichsel wird überquert und die Tote Weichsel führt an die Ränder von Danzig. Die Stadteinfahrt gestaltet sich gewohnt mühsam, es wird gebaut wie wild, in der Innenstadt das übliche Geschiebe, alles drängt sich um den Neptunbrunnen. Die Ränder wären interessanter, nur dazu fehlt die Zeit. Aber, ein Besuch muss sich ausgehen: Das Tor 2, der ehemaligen Danziger Lenin-Werft. Das Werkseingangstor ist renoviert und davor steht ein 40 Meter hohes Denkmal zur Erinnerung an die 1970 bei Protesten getöteten Werftarbeiter. Die Gewerkschaftsbewegung Solidarność, eine wichtige Kraft der politischen Wende 1989. Heute ist der „Plac Solidarności“ eine Gedenkstätte. Der Hackler-Eingang, der noch immer bestehenden Danziger Werft, liegt unweit dahinter und für ein Solidaritäts-Bier in der Werkskantine muss Zeit sein!
Stop-And-Go, fotografieren und treten. Im nahegelegenen Sopot, der Côte d’Azur von Polen, ein ganz anderes Bild: Noble Hotels, Strandcafés, Seebrücke, Bernsteinkult. Schnell weiter nach Gdynia, um noch die Fähre nach Hel zu erwischen, zu viel Trubel rundherum. Zu spät, nächste Fahrt morgen zehn Uhr und Campingplatz gibt es auch keinen. Viel zu wenige Kilometer gemacht – ein Frust-Bier – später finde ich ein freies Bett in den „Blues Rooms“.

Goodbye Lenin, Grenzproblemchen und Füße in den Sand


8. Tag: Dienstag, 20. Juni

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Strecke: Kaliningrad – Mamonowo – Braniewo – Frombork – Elbag – Stegna – Jantar

Streckenlänge: 151 km

Eine Radreise ist kein Städte-Trip. Die Eindrücke stapeln sich und bleiben unverarbeitet. Und dann wäre da noch die fremde Schrift: Wer nicht lesen kann muss fühlen! In einem Wirtshaus werde ich durch heftiges zuprosten aufgefordert den Tisch zu wechseln. Das junge Paar kommt aus Birobidschan, von Kaliningrad über 9.000 Kilometer weit entfernt, nahe der chinesischen Grenze, Wladiwostock ist auch nicht mehr weit. Sie machen Urlaub. Es wird getrunken, gelacht, Fotos gezeigt, nur die sprachliche Konversation will nicht funktionieren. Eine Übersetzungs-App hilft.

Genosse Lenin steht noch immer auf seinem Sockel und wärmt sich in der Morgensonne – Goodbye! Raus aus der Stadt, wieder rein ins Land. Aufgrund des starken Verkehrs wird bis zum grenznahen Mamonowo wieder Bus gefahren, ein weiterer Länderwechsel mit Passkontrolle wartet. Der Grenzübertritt nach Polen verläuft nicht reibungslos. Natürlich radle ich an der langen Autoschlange vorbei und überfahre ein Stopp-Schild. Da kennt der Grenzer keinen Spaß, darüber hinaus hat sich eine Packung Zigaretten zu viel in meinem Gepäck verirrt, aber auch das wird mit Charme gebügelt. Der heutige Tag gestaltet sich zerrissen, restliche Rubel ausgeben, Grenzübertritt, frische Złoty einkaufen, es ist an der Zeit Kilometer zu machen. Das mit dem Planen hatten wir schon, es kommt immer anders: In Frombork sollte mich ein Schiff über das Frische Haff nach Krynica Morska übersetzen, der starke Wind hatte andere Pläne – kein Fährbetrieb. Ums Haff herum, ein grober Umweg. Eine sich mir bietende Bus-Mitfahrgelegenheit nehme ich gerne an. Am Ende des Tages wird doch noch alles gut, mein Ein-Mann-Haus steht auf einem Campingplatz in Jantar nahe Danzig und jetzt stecke ich die Füße in den Sand!