Ein letzter Seitenwechsel, eine Höllenfahrt und geliebte Kraftausdrücke



11. Tag: Montag, 18. Dezember 2023

Strecke: Ilok – Neštin – Beočin – Novi Sad

Streckenlänge: 49 km (727 km)

Ein letztes Mal vor dem Zieleinlauf wartet ein Länderwechsel: Kroatien entschwindet im Rücken, Serbien im Blick. Die serbischen Grenzbeamten lassen die strengen Blick stecken, drehen die Daumen hoch und feuern an für die nächsten Kilometer. Mit dem Grenzübertritt werden die Menschen zugänglicher, dafür die Straßen ruppiger. 
Die Wahl fällt auf das rechte Donauufer für den Weg nach Novi Sad. Ein Schwanenpaar sorgt mit seinem Flügelschlag für ordentlichen Wirbel in der stillen Landschaft. Einige schweißtreibende Hügel müssen genommen werden bevor eine Labestation am Schdrom mit einem Erfrischungsgetränk belohnt.
Ab Beočin ist es vorbei mit der Idylle, die Stadt ist bekannt für ihre Zementindustrie. Auf der schmalen, in beiden Richtungen einspurig stark befahrenen Straße ist kein Platz mehr für ein Zweirad. Das so gut wie nicht vorhandene Straßenbankett ist ein einziger Schlammstreifen. In kürzester Zeit ist zwischen Reifen und Kotschützer kein Platz mehr und die Räder stehen still. An der „Ersten-Hilfe-für-das-Faltrad“ führt kein Weg vorbei. Die Weiterfahrt wird kriminell … In der Ferne erscheint die erste Donaubrücke im Sichtfenster und gibt Hoffnug auf Erlösung.
Auf der Donau-Promenade von Novi Sad wird das Rad ein weiters Mal verarztet.
Novi Sad ist die zweitgrößte Stadt Serbiens und Hauptstadt der Vojvodina. Der Blick wird der Festung Petrovaradin am rechten Donauufer vereinnahmt. Während des Kosovokrieges 1999 wurden bei NATO Luftangriffen alle Donaubrücken zerstört.
Eine Altstadtrunde endet am Markt, die Stände sind bereits abgeräumt, aber das Markt-Beisl hat noch offen. In der kleinen Räumlichkeit wird der Standler-Alltag wortreich nachbesprochenen. Der beliebteste Kraftausdruck – „bitschka Madre“ – ist im allgemeinen Sprachschatz fix verankert und schmückt gefühlt jeden dritten Satz. 
Das Tageslicht ist inzwischen ausgegangen und die Weiterführung der Stadterkundung verliert sich im Tschocherl.

Durchlüften, Selbstgespräche und Ostslawonien statt Adria



10. Tag: Sonntag, 17. Dezember 2023

Strecke: Vukovar – Opatovac – Šarengrad – Ilok

Streckenlänge: 36 km (678 km)

Nach der gestrigen Verbreitung schlechter Stimmung, wieder zurück zu den Reisefreuden: Heute wartet eine Kurzstrecke, der restliche kroatische Abschnitt an der Donau und auch das Wetter befindet sich in Sonntagslaune!
Die Etappe  von Vukovar nach Ilok ist eine meditative, ideal um den Kürbis einmal ordentlich durchzublasen. Eine einsame Straße, Felder, Obstplantagen, Weinanbau, unterbrochen von Geisterdörfer. In den letzten 20 Jahren keine Veränderung. Opatovac hat ein einziges Beisl, sehr aus der Zeit gefallen, eigentlich genau das Richtige. Der Schwabo mit dem Zwergenrad wird bedient, weitere Aufmerksamkeiten werden nicht verschwendet.
Nach zehn Tagen allein auf weiter Flur schleichen sich die ersten Selbstgespräche in den Radalltag. Zwischenmenschlicher Austausch passiert leider selten. Einerseits die gegenseitigen Sprachbarrieren, andererseits die winterliche Zugeknöpftheit. Das nicht Verstehen hat auch Vorteile, nicht jede Ausscheidung will gehört werden, aber auch die brennenden Fragen bleiben somit unbeantwortet.
Andere Radreisende gibt es nicht. Apropos Radfahren, in Ortschaften/Städten wird der Drahtesel für Kurzstrecken oder Besorgungen eingesetzt. Und in vielen Fällen muss das Rad herhalten weil sich die zusätzlichen zwei Reifen, schlicht und ergreifend, finanziell nicht ausgehen.
Ilok liegt im letzten Zipfel Ostslawoniens, umzingelt von Serbien. Auch in Ilok hat sich wenig bewegt, einzig der „Alte Weinkeller“ der Stadt ist neben dem Bethaus und dem Kloster herausgeputzt. Auch die Preisgestaltung ist würzig. Und am Iloker Burggemäuer wird gerade gearbeitet. Aber auch rundherum wäre Renovierung von Nöten. Weniger Geld an die Adria, der Osten Slawoniens braucht es dringender, ein Paradies am Schdrom ohne Zuwendungen!

Kreuze, Wasserturm und trübe Gedanken trotz heiterer Wetterlage



9. Tag: Samstag, 16. Dezember 2023

Strecke: Osijek – Dalj – Vukovar

Streckenlänge: 47 km (642 km)

Das Wetterpendel hat in die richtige Richtung umgeschlagen, die Wolken haben die Flucht ergriffen. Noch ein Stück die Drau entlang und eingebogen auf die Dunav-Route. Nördlich verliert sich die Drau in der Donau, schdromabwärts liegt Vukovar direkt am Fluss.
Kreuze und Gräber erinnern immer wieder an die dunkelsten Zeiten des jugoslawischen Zerfalls. Die Schlacht um Vukovar war, nach sich häufenden Zusammenstößen zwischen Kroaten und Serben, der Beginn des vier Jahre lang  andauernden Kroatienkrieges.
Der Wasserturm wurde in Folge von der Jugoslawischen Volksarmee zerstört und gilt seither als Mahnmal des Jugoslawienkrieges. Die Ruine wurde renoviert, ein Lift eingebaut und in ein Museum umgewandelt. Der Lift ist derzeit außer Betrieb und es müssen 198 Stufen zum Schauraum überwunden werden. Die Aussichtsplattform bietet einen 360-Grad-Ausblick: Das Stadtzentrum, das Umland und der Schdrom von Nord nach Süd, bis zum Horizont! Trotz des bestechenden Panoramas aus luftiger Höhe bleibt die Stimmung, der Geschichte wegen, im Keller.
Auch 28 Jahre nach dem Friedensschluss klebt der Krieg untrennbar an dieser Stadt. Baulich ist vieles bereits beseitigt und die Stadt funktioniert an der Oberfläche. Unverständlich aber wahr, als erstes werden immer die jeweiligen Bethäuser aufgemascherlt. 
Kroaten als auch Serben wohnen wieder in der Stadt, aber nicht gemeinsam, jede Ethnie lebt für sich und das tägliche Leben bringt kaum Berührungspunkte: Eigene Schulen, eigene Lokale, eigene Läden.
Der alte zentrale Markt gleicht einer Geisterstadt, stattdessen befriedigen internationale Ketten und moderne Glaskobel die Bedürfnisse der Menschen. Das zentrale, noch aus besseren Jugo-Zeiten, am Fluss gelegene Hotel Dunav ist eine Ruine. Orte der Zusammenkunft sind spärlich. Sogar die landesübliche „Hauptspeise“, die Ćevapi ziehen gegenüber dem importierten Kebab-Spieß den Kürzeren. Und selbst am Adventmarkt ist die Stimmung verhalten, da hilft auch keine ohrenbetäubende Beschallung …
Ein trüber Tag trotz des strahlend blauen Himmels.

Die Drau, ein Nationalisten-Treffen und der rote Fićo



8. Tag: Freitag, 15. Dezember 2023

Strecke: Bezdan (SRB) – Batina (HR) – Osijek

Streckenlänge: 46 km (595 km)

Vor dem Fenster der Čarda Šebešfok, geht gerade die Sonne auf. Reiher gleiten lautlos über die unzähligen Donaukanäle auf der Sche nach einem Frühstück. Eine Brücke über den Schdrom verbindet Serbien mit seinem Nachbarn Kroatien. Die Grenzformalitäten sind schnell abgehandelt. Hoch über Batina erinnert ein Kriegerdenkmal an die Schlacht von Batina von 1944, bei der sowjetische und jugoslawische Verbände die deutschen Truppen besiegten. Der Osten Slawoniens ist auch bekannt für die Früchte seiner Rebstöcke. Kleine Kellereien laden zur Verkostung. Guter Boder, viel Wasser, viel Sonne – ein Glaserl Graševina vertreibt die üble Laune. Die Ortschaften am Weg nach Osijek wirken allesamt ausgestorben, alte ländliche  Bausubstanz vergammelt am Wegesrand. Der Weg in die viertgrößte kroatische Stadt führt über die Drava/Drau. Als erstes sticht die ausgedehnte Festungsanlage Tvrđa ins Auge. Als Bollwerk gegen die Osmanen gebaut, ist sie gleichzeitig die heutige Altstadt. Osijek ist das wirtschaftliche Zentrum Ostslawoniens und die Europska avenija verbindet den alten Stadtkern mit dem neuen.
Der Kroatienkrieg ist lange her und trotzdem allgegenwärtig. Viele Gebäude im Stadtbild stellen ihre Kriegswunden noch ungeschminkt zur Schau. 
Am Hauptplatz toben die Tauben, der zentrale Platz ist nach dem Nationalisten Ante Starčević benannt, auf dem Sockel unter seinem Denkmal stehen die verstörenden Zeilen: „Mächtiger als das Recht des kroatischen Volkes auf Selbstbestimmung sind nur die Gesetze Gottes und der Natur. Gott und Kroatien.“ Einen Steinwurf entfernt, am Trg Slobode, dem Freiheitsplatz, steht Franjo Tuđman im Spazierschritt auf einem steinernen Podest, würde er weitergehen können, würde er die vielen Blumen zu seinen Füßen zertreten. An der Vukovarska cesta sorgt der „Crveni fićo“ für Aufsehen. „Der rote Fićo überfährt den Panzer“, eine Installation aus den Nachkriegsjahren, ein roter Zastava überrollt einen Panzer der Jugoslawischen Volksarmee. Ein Symbol des Widerstands der Bürger_innen von Osijek gegen die serbische Agression, das Kunstwerk soll an den kroatischen Sieg erinnern.
Den Rest des Abend nehmen banale Tätigkeiten wie Körperpflege in Anspruch. Morgen gibt es als Krönung eine frische Panier, weil Samstag is.

Wasserstopp, neue Zäune und ein gepflegtes Fischgulasch



7. Tag: Donnerstag, 14. Dezember 2023

Strecke: Baja – Hercegszántó (HU) – Bački Breg (SRB) – Bezdan

Streckenlänge: 45 km (549 km)

Den Wolken ist das Wasser ausgegangen, es wird wieder „bromptonisiert“! Die Mitfahrgelegenheiten der vergangenen Tage haben einen bequemen Polster erwirtschaftet. Die Wetter-Kapriolen, so versprechen es die Vorhersagen, sollen vorbeigezogen sein und die Entfernung zum Ziel lässt sich ab sofort in bequeme Etappen aufteilen. Die Tageslichtstunden sind knapp bemessen: Rechtzeitige Abfahrtzeiten wollen eingehalten werden, Pausen, die Suche nach einem geeigneten Bett eingerechnet und kleine Stadtflanerien müssen auch noch in den Tageslichtrahmen passen. Also auch Kurzstrecken füllen ein ganzes Tagespensum locker aus.
Eine einzige Straße führt vom Start bis zur heutigen Endstation. Zwischen Hercegszántó und Bački Breg wird wieder einmal der ehemalige „Eiserne Vorhang“ überwunden. Das skurrile an dieser Interaktion, der „spaßbefreite Viktor“ ließ einen neuen undurchdringlichen Vorhang, mit neuen Spielregeln errichten. Alle Menschen dürfen ausreisen, aber nicht jede/r darf einreisen. Die Flüchtlingskrise 2015 veranlasste die ungarische Regierung unter Viktor Orbán zum Bau eines neuen Grenzzauns zu seinen Nachbarn Serbien und Kroatien. Die Hoffnung das alle Mauern und Zäune in den Geschichtsbüchern verschwinden war eine Illusion. Im Gegenteil das Model-Orbán macht Schule.
In die richtige Richtung und mit dem richtigen Pass ist der Grenzübertritt nicht der Rede wert. Niemand will rein, niemand will raus. Das „Mini-Rad“ sorgt für ein schmunzelndes Kopfschütteln und wird anstandslos durchgewunken.
Die letzten Kilometer nach Bezdan, eine der ältesten Ansiedlungen der Vojvodina, sind ein gefühltes Heimspiel. In der „Čarda Pikec“, einer Herzstation direkt am Schdrom, am gegenüberliegenden Ufer liegt das kroatische Batina, wird zuerst einmal ein Fass aufgemacht. Leider ist kein Bett bezugsfertig. Wenige Kilometer entgegen der Fahrtrichtung findet sich die ersehnte Herberge. Der Rest des Nachmittags/Abends wird von den gewohnten Gepflogenheiten eingenommen: Das Zweirad wird gepflegt und für das leibliche Wohl sorgt ein gepflegtes Fischgulasch aus dem Kessel.

Ps: Für alle übriggebliebenen Raucher_innen ist Serbien ein letztes Paradies. Es darf gequalmt werden: innen, außen und in allen Lebenslagen.

Sauwetter, Bus und noch mehr Sauwetter



6. Tag: Mittwoch, 13. Dezember 2023

Strecke: Dunaújváros – Solt – Kalocsa – Baja

Streckenlänge: 101 km (504 km)

Dunaújváros verhüllt sich in dichtem Nebel und die Wolken tragen jede Menge Wasser in sich. Das gestern noch gepflegte Rad wird heute nur für Zubringerdienste entfaltet. Der heutige Tag wird zur Busreise. Auf der Stahlwerkstraße wartet ein Personentransporter Richtung Baja. Der Bobo-Porsche zieht verstohlene Blicke auf sich und erregt Aufsehen. Auf beiden Seiten des Schdroms flaches Land mit Feldern soweit das Auge reicht, gelegentlich schiebt sich eine Ortschaft dazwischen. Der Regen hat inzwischen alle Schneemassen weggewaschen. Einmal Umsteigen und das Tagesziel ist erreicht.
Baja liegt am linken Donauufer, am Donauarm Sugovica im nördlichen Teil der Batschka, im Dreiländereck Ungarn-Serbien-Kroatien. Das Stadtwappen ziert der Sündenfall: Adam, Eva, ein Baum, die verbotene Frucht und die Schlange.
Die pannonische Tiefebene war nach den Türkenkriegen weitgehend entvölkert, ab Ende des 17. Jahrhunderts wurde dieses Gebiet von Donauschwaben besiedelt. Baja hieß damals Frankenstadt. Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Gebietsaufteilung in andere Nationalstaaten mussten die Donaudeutschen um ihre Rechte und Traditionen kämpfen, diesen Umstand nützte das Deutsche Reich. Im Zweiten Weltrieg kämpften Donauschwaben auf der Seite der Wehrmacht. Nach dem Krieg wurden viele in die Sowjetunion deportiert, viele wurden vertrieben.
Bajas große Trümpfe sind Fisch, Wein und Tourismus, diese Kombi gipfelt alljährlich, am zweiten Wochenende im Juli, in einem rauschenden Fest. In mehr als 2.000 Kesseln wird auf offenem Feuer für über 20.000 Menschen Fischsuppe gekocht, die „Bajai halászlé“.
Der heutige Tag verkommt zu einem falschen Ruhetag, mit dem vorherrschenden Wetter ist kein Programm zu machen. Die Sugovica entlang führt ein Spazierweg zur Donau, der Schdrom dampft. Die Dunstsuppe verschluckt ganze Fährschiffe. Nur die Enten lassen diese Waschküche gleichgültig an sich abtropfen. Ordentlich eingewässert wird die restliche Zeit des Tages bei Erfrischungsgetränken verplempert.

Ein Ruhetag, eine Stalinstadt und Muki die Lokomotive



5. Tag: Dienstag, 12. Dezember 2023

Strecke: Dunaújváros

Eine Mischung aus Erschöpfung und Reizüberflutung sorgt für eine fast schlaflose Nacht und mündet in einem Ruhetag. Selbst das Reisen wird mit dem Alter nicht einfacher …
Einmal noch liegen bleiben ohne schlechtes Gewissen. Der Stopp in Dunaújváros ist aber auch bewusst gewählt, die Industriestadt an der Donau ist ein echtes Unikat. Schön ist sie nicht, dafür hat sie eine außergewöhnliche Geschichte. Das Zentralkomitee der ungarischen Kommunisten hatte den glorreichen Einfall aus dem Dorf Dunapentele eine Retortenstadt zu Ehren des Genossen Stalin zu errichten. Ein Stahlwerk samt angeschlossenen Wohnsiedlungen für das arbeitende Volk, genauso wie in anderen osteuropäischen Ländern. Künstlich errichtete Industrie-Schlaf-Burgen wie Nowa Huta in Polen oder Eisenhüttenstadt in der DDR. 1952 wurde Dunapeterle zu Sztálinváros, zur Stalinstadt. Eine Stahlfabrik wurde aus dem Boden gestampft und die dazugehörenden Wohneinheiten im Stile des sozialistischen Realismus/Klassizismus. Als Stalin 1953 den Löffel abgab wurde der eigentliche Entwurf des Architekten Tibor Weiner teilweise wieder verworfen. Der Stadt blieb eine große Stalinstatue erspart, ebenso verworfen wurden die geplanten Statuen der „Helden der Arbeit“ entlang der Stalinstraße und auch das geplante Stadtzentrum wurde nicht mehr realisiert.
Heute heißt die Stadt Dunaújváros und aus der Stalinstraße wurde die Vasmű ucta, die Stahlwerkstraße. Der Lokalaugenschein führt durch eine Stadt mit Haupstraße, aber ohne richtigem Zentrum. Abseits der planmäßigen Wohneinheiten hat sich der viel kostengünstiger Plattenbau durchgesetzt. Für die Revitalisierung der realsozialistischen Baudenkmäler fehlt das Geld und so bröckelt Dunaújváros mit den Jahren vor sich hin. Wer die Möglichkeit hat packt seine Koffer, junges Blut ist Mangelware. Ein Historiker soll einmal den Ausspruch getätigt haben: „Nur wer einen Vogel hat verweilt länger als nötig in Dunaújváros!“ Somit wären alle Zweifel ausgeräumt.
Eine harmlose Auflockerung im Stadbild ist „Muki“, eine in Berlin gebaute Lokomotive, ehemals im Einsatz der Pioniereisenbahn. Einrichtungen zur erbaulichen Zerstreuung gibt es wenige, die tagtäglichen Bedürfnisse befriedigen internationale Ketten und Unterhaltung ist nicht angesagt. Sogar um sich den Frust von der Seele zu saufen müssen viele Meter gelaufen werden um eine geeignete Gaststube zu finden. Die versteckte „Corso Étterem és Söröző“ ist so eine – unscheinbar, wunderbar – mit lokaler unverstellter Küche. Dann ist aber schon wieder Schicht im Schacht!

Rhythmus finden, durch die Metropole durch und mit dem Zug schdromabwärts




4. Tag: Montag, 11. Dezember 2023

Strecke: Visegrád – Szentendre – Budapest – Dunaújváros

Streckenlänge: 120 km (403 km)

Jeder Abfahrtstag birgt eine gewisse Unruhe in sich: das Wetter, die Distanzen, der Schlafplatz, der eigene physische Zustand, …. Die ersten gefahrenen Kilometer bringen zurück in den gewohnten Rhythmus. Der geklimperte Weihnachts-Schlager aus dem Frühstücksraum hat sich eingebrannt und ist nicht abzuschütteln. 
Zwischen Visegrád und Szentendre ändert der Schdrom seinen Lauf und knickt von Ost nach Süd zum „Donauknie“. Die barocke Kleinstadt Szentendre liegt an einem Donauarm. Eine einst ansässige Künstlerkolonie hat ihr den Beinamen „Künstlerstadt“ beschert. Ein perfekter Slogan für die Tourismuswerbung und aus Kunst wird Kitsch und Konsum. Die in den warmen Jahreszeiten überfüllten Gassen haben ihre Ruhe wiedergefunden, nur eine handvoll Besucher_innen aus dem fernen Osten streifen durch die Innenstadt und lassen die Kassen der Ramschläden klingeln. Eine Reisebegleitung hält eine Brandrede für den ungarischen Paprika. Die zahlreichen Cafes am Fluss haben großteils geschlossen und die reizvolle Promenade wirkt beschaulich wie selten.
Idyllisch wie nie ist auch der Donauradweg, Teil des EuroVelo 6, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Die am stärksten befahrene Radroute Europas führt einsam und verlassen bis an den Stadtrand von Budapest. In der ungarischen Metropole ist es mit der Einsamkeit dann auch schon wieder vorbei. Die Stadteinfahrt kann mit einigen Attraktionen aufwarten: Auf der Pester Seite erscheint bald das monumentale Parlamentsgebäude, auf der Budaer Seite grüßt schon aus der Ferne die Freiheitsstatue auf dem Gellértberg, durch die Häuserfronten lässt sich kurzfristig die Fischerbastei erblicken, der Burgpalast auf dem Burgberg und unzählige Donaubrücken. Rund um die Kettenbrücke ist der Besucher_innen Ansturm am massivsten und die Lust auf eine Nacht in der schon mehrmals besuchten Hauptstadt bröckelt. Bei einem Erfrischungsgetränk in einer mehr als bodenständigen Ausschank fällt der Groschen auf Weiterfahrt. Vom Bahnhof Kelenföld fährt ein Zug in meine Richtung. Der viertgrößte Budapester Bahnhof hat schon ruhmreichere Zeiten erlebt, das alte Bahnhofgebäude ist abgezäunt und der derzeit aktive Teil befindet sich unter der Erde. Einen erlebten Raufhandel unter „Bahnhofspezln“ später rollt der Pendlerexpress schdromabwärts mit dem Ziel Dunaújváros.

Wintereinbruch, ein Bummel-Zug und ein Kaff mit Burg



3. Tag: Sonntag, 10. Dezember 2023

Strecke: Komárom – Almásfüzitő – Esztergom – Dömös – Visegrád

Streckenlänge: 79 km (283 km)

Der morgendliche Blick aus dem Fenster verspricht nichts Gutes: Ein Meer in Weiß. Der Wurlitzer im Kopf legt gleich die passende Schallplatte auf: „De Woaheit is so weiss wie Schnee“, ein Wolfgang Ambros Klassiker aus seinen besten Zeiten.
Die gestrige Verzweiflung hat sich trotz Wetterkatastrophe weitgehend aufgelöst. Aufgeben? Aufgegeben wird ein Brief!
Komárom ist eine geteilte Stadt, der nördliche Teil gehört seit 1920 zur Slowakei (Komárno). Die beiden Stadtteile sind durch die Donau voneinander getrennt und durch drei Brücken miteinander verbunden. Vom ungarischen Teil gibt es weniger zu erzählen, bis auf die Geburt zweier außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Der eine, Theodor Körner, so erzählt die Legende, wäre auch bei einem Wetter wie heute nur im Anzug, ohne Hut und Mantel, außer Haus gegangen. Über den einstigen Wiener Bürgermeister und späteren Bundespräsidenten gäbe es noch einige weitere skurrile Anekdoten. Der andere, Franz Lehár, hatte ein Händchen für volkstümlich klassische Melodien. Er hat uns unter anderen die Operette „Die lustige Wittwe“ beschert.
Die Hauptstraßen bieten ein Schlachtfeld aus Schnee, Eis, Matsch. Die Radwege hingegen strahlen in jungfräulichem Weiß. Herausfordernd zu befahren sind beide.
Die Landschaft rundherum wirkt als hätte sie alle ihre Farben verloren, wie eine Fotografie in Schwarz und Weiß. Vereinzelte realsozialistische Überreste säumen den Straßenrand. In Almásfüzitő wartet ein Bummel-Zug allein auf weißer Flur auf Mitreisende. Ein Hoch auf das Faltrad, drei Handgriffe und Rad sowie Fahrer sitzen im ausgemergelten Triebwagen und warten auf die Abfahrt nach Esztergom.
Ein Dom auf einem Hügel beherrscht die einstige Hauptstadt des Königreichs Ungarn. Am Fuße führt ein Traum von einem Radweg direkt am Schdrom entlang. Die Fähranlegestelle von Dömös lädt zu verweilen ein und die letzten Kilometer auf der Bundesstraße nach Visegrád sind mehr Kür als Pflicht. Visegrád ist ein Kaff mit einer Burg am Berg. Der Rundblick von oben bietet ein eindrucksvolles Donau-Panorama. In den Sommermonaten wird der Ort zum Tourismusmagnet, in der kalten Jahreszeit hält er seinen Winterschlaf. Es gibt keine Punsch-Hütten, dafür ein ordentliches Gasthaus. In der urigen Wirtsstube der Gulyás Csárda wird hemdsärmelige Hausmannskost serviert. 
Draussen vor der Tür wird von Tages- auf Kunstlicht umgestellt. Am Bergkegel erstrahlt die Königsburg und am Boden hüllt sich der Schdrom in  Dunkelheit.

Eine Schlaf-Vorstadt, ein Zombieball und kein Bett



2. Tag: Samstag, 9. Dezember 2023

Strecke: Bratislava (SK) – Rajka (HU) – Mosonmagyaróvár – Győr – Komárom

Streckenlänge: 125 km (203 km)

Der Start in den Tag verzögert sich, der Koch hatte andere Pläne und das ersehnte Frühstück lässt auf sich warten. Das Stadtzentrum wird wiederholt großräumig umfahren, stattdessen empfiehlt sich ein Kurzbesuch des slowakischen Rundfunkgebäudes. Architektonisch frech, eine auf den Kopf gestellte Pyramide. Über die Starý most (Alte Brücke), eine Straßenbahn-Rad-Fußgänger-Brücke wird die Donau gequert und es beginnt das Abenteuer Petržalka. Das ehemalige Dorf wurde 1961 offizieller Stadtteil Bratislavas und ab den 1970er Jahren zu einer sozialistischen Plan-Plattenbau-Stadt aufbetoniert. Inklusive riesiger Gewerbe-Bunker und dominanter Stadtautobahnverbindungen. Der Grauschleier über der Stadt macht das Bild noch dramatischer. Eine für den Autoverkehr gesperrte Straße nach Čunovo, dem südlichsten Stadtteil, bringt Erleichterung. Und schon rollen die Räder auf ungarischem Asphalt durch die Grenzortschaft Rajka. Der aufkommende Eisregen lässt keinen Frohsinn aufkommen. Győr noch bei Tageslicht zu erreichen ist unrealistisch, zu viel verzögerte Zeit. Ein Radweg neben der Hauptstraße führt bis Mosonmagyaróvár. Und ein hoffnungslos überfüllter Zug bringt Rad und Fahrer ins angedachte Etappenziel.
Győr steht das Wasser bis zum Hals, hier teffen sich die Flüsse Rábca, Raab, Marcal und die Mosoner Donau bevor sie gemeinsam ihren Weg ins Schwarze Meer aufnehmen. Soviel zu den Fakten, die gespürte Realität ist unverwässert: Ein noch nie erlebter Weihnachts-Zirkus, samt Riesenrad und heißem Alkohol. In der Kopf-Playlist singt Georg Danzer: „Heut ist Zombieball!“ Dem nicht genug, kein einziges Bett in der ganzen Stadt. Verzweiflung macht sich breit. Zurück zum Bahnhof und eine Stadt weiter. Neues Ziel Komárom. Ein Schlafplatz lässt sich auftreiben, nur die Küche bleibt kalt. Alle Anlaufstellen sind entweder geschlossen oder verköstigen eine geschlossene Gesellschaft. Als Betthuperl gib es Fastfood und Bier …